Ein kleines Stück vom Himmel nur
dazu geführt, dass Nancy ein noch schlechteres Gewissen bekommen hatte, so als nutze sie ihn und seine Gutmütigkeit aus.
»Den solltest du dir warmhalten!«, riet Kay. »Solche Männer findet man nicht wie Sand am Meer.«
Nancy schwieg. Kay hatte natürlich Recht. Einen Mann wie Joe fand man nicht jeden Tag. Doch deswegen war er noch lange nicht der richtige für sie.
Jetzt waren die Bordgeschütze verstummt, in der Kabine war es dunkel. Keine weiteren Blitze, nur Kays glimmende Zigarette.
»Ich glaube, es ist vorbei«, sagte Nancy und war sich selbst nicht sicher, ob sie über den Angriff oder über Joe redete.
»Sieht so aus. Heute Nacht wird es wohl keine Abenteuer mehr mit dem netten Leutnant im Rettungsboot geben.« Kay drückte die Zigarette aus und kletterte in ihre Koje zurück. »Nacht, Nancy!«
»Gute Nacht.« Das Dröhnen der Schiffsmotoren war plötzlich merkwürdig beruhigend und schien ihr Innerstes mit seinem Vibrieren zu erfüllen. Nancy schloss die Augen und lieà sich von dem gleichmäÃigen Geräusch in den Schlaf wiegen.
Nach beinahe zwei Wochen auf See fuhr die SS Culloden Queen durch die Schlucht des Avon nach Bristol hinein. Die jungen Frauen standen an Deck und beobachteten, wie das Lotsenschiff sie durch einen schmalen Kanal zwischen hohen, grasbewachsenen Abhängen dirigierte. Wie immer versuchte Miriam de Sousa die anderen mit ihrem überragenden Wissensschatz zu beeindrucken.
»Seht ihr die Brücke da vorn? Ein toller Anblick, nicht wahr? Die wurde von Isambard Kingdom Brunel gebaut. Er hat auch noch andere Sachen konstruiert ⦠Eisenbahnen und so weiter. Und das erste Stahlschiff â die SS Great Britain â¦Â«
Die Brücke war zweifellos beeindruckend, ihr glänzender Aufbau spannte sich in einem weit geschwungenen Bogen über die Schlucht, ohne dass Stützpfeiler sichtbar waren. Deswegen wird sie wohl auch Hängebrücke genannt, vermutete Nancy. Sie wollte ihren Gedanken schon äuÃern, überlegte es sich aber anders. Sie wollte Miriam keinen Anlass zu einem weiteren Vortrag geben.
Auch vom Wetter war Nancy beeindruckt. Sie hatte immer gehört, dass es in England kalt und nass sei, aber an diesem Tag war der Himmel von einem klaren Blau, und nach dem schneidenden Wind des Atlantiks schien ihr die Sonne angenehm auf das Gesicht und die bloÃen Arme.
Doch allmählich spielte ihr die Zeit Streiche: Sie dehnte sich schier endlos und schnellte erneut zusammen wie ein Gummiband, Phasen frustrierender Langsamkeit wechselten sich ab mit hektischer Aktivität.
Als die neuen Rekrutinnen an Land gingen, wurden sie von Angehörigen der Royal Air Force in Empfang genommen. Die Soldaten begleiteten die Mädchen auf der vierstündigen Reise nach London, wo sie Jackie Cochran treffen sollten. Nancy war erschüttert über das Ausmaà der Zerstörungen in der Hauptstadt: mit Wasser gefüllte Bombenkrater, Gebäude, die in Trümmern lagen, Häuser, denen eine Wand fehlte, so dass man hineinschauen konnte wie in eines der Puppenhäuser, das sich Nancy als Kind sehnlichst gewünscht hatte. Mit dem Unterschied, dass in einem Puppenhaus liebevoll arrangierte Miniaturmöbel sichtbar wurden, wenn man die vordere Front beiseiteschob: niedliche Bettchen mit winzigen Ãberwürfen, eine voll eingerichtete Küche mit Töpfen und Pfannen. Diese Häuser dagegen boten eine groteske Parodie des Zuhauses, das sie einmal gewesen waren. Die oberen Stockwerke neigten sich bedrohlich zur Mitte hin, Möbel schwebten über dem Abgrund, Tapeten hingen herab, und Gardinen blähten sich traurig im Wind. Dieser Anblick brachte Nancy die furchtbare Wirklichkeit einer vom Krieg zerstörten Stadt stärker zu Bewusstsein, als es unzählige Fotos in den Zeitungen je vermocht hatten.
Jackie hatte dafür gesorgt â und dafür bezahlt â, dass ihre Schützlinge zwei Tage im Savoy Hotel wohnen konnten. Inmitten all der Zerstörung wirkte es seltsam unberührt: Stolz reckte das Hotel seine Pracht den deutschen Bombern entgegen, entschlossen, den Schein zu wahren und die Werte der alten Welt aufrechtzuerhalten. Das Zimmer, das Nancy und Kay sich teilten, war der Inbegriff von Luxus; nach den harten Kojen in der engen Kabine konnte keine der beiden der Versuchung widerstehen, sich auf die Federbetten fallen zu lassen und lachend und kreischend
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