Ein Knödel zu viel: Kriminalroman (German Edition)
vertreibt die Müdigkeit. So ein blöder Spruch seines Vaters.
Samantha Kurzius. Die Tote war zu Lebzeiten praktisch ein Phantom gewesen. Als Tote sah sie schrecklich aus. Und so zerbrechlich. Jakisch betrachtete die Fotos vom Tatort. Der verdrehte Kopf. Die kurzen schwarzen Haare. Das kleine Einschussloch und die Austrittswunde. Die blutbespritzten Reste des zersplitterten Fensters auf der Beifahrerseite.
Was hatte diese Frau gedacht, als sie am See geparkt hatte? Hatte sie noch das Panorama genossen? Hatte sie diesen stillen und so geheimnisvollen See überhaupt wahrgenommen? Hatte sie gesehen, dass sich das ganze Allgäu im Rottachsee spiegelte, wenn man nur lange genug auf das glatte Wasser sah? Wusste sie an jenem Tag schon, dass sie wenig später ihren Mörder treffen würde? Wem hatte sie so sehr vertraut, dass sie den weiten Weg von Mönchengladbach nach Moosbach gefahren war? Oder hatte die Angst sie ins Oberallgäu getrieben?
Er würde nach Pesch fahren und sich ihre Wohnung ansehen. Und er sollte die Bilder vom Allgäu aus seinem Kopf vertreiben. Er sollte sich bei seinen Großeltern melden. Und er sollte endlich Steffi fragen, ob sie ihn heiraten würde. Wenn nicht, dann sollte er die Frau finden, die ihn lieben konnte. Die sich nicht über sein rotes Haar lustig machte, auch nicht über die paar Pfund zu viel auf seinen Rippen, die ihn so nahm, wie er war. Er sollte auch ein besserer Polizist werden. Das war er sich schuldig. Außerdem hatte er noch eine Rechnung offen. Mit seinem Vater. Auch wenn der nun schon lange tot war.
Eine halbe Stunde später stand Carsten Jakisch vor der Wohnung von Samantha Kurzius. Die Schirrmeisterei hatte ihm einen Dienstwagen ohne Navigationsgerät zugewiesen. Aber er war es gewohnt, nach Straßenkarte zu fahren. Der Stadtteil und die Wohngegend waren wenig bemerkenswert, dachte Jakisch beim Anblick des Neubaus. Das Haus war ebenso anonym wie das Klingelschild von Samantha Kurzius. Lediglich die Initialen S. K. hatten den Freiern den Weg gewiesen. Die Wohnungstür war noch versiegelt.
Die Dreizimmerwohnung war unauffällig. Das unaufgeräumte Zuhause einer jungen Frau. Nichts deutete darauf hin, warum Kurzius ins Allgäu gefahren war. Jakisch hatte auch nicht erwartet, auf Hinweise zu stoßen, die ihn direkt zu Mörder und Motiv führen würden. Er hatte sich lediglich einen Eindruck von dem machen wollen, was die junge Frau als ihr Heim oder zumindest als ihren Arbeitsplatz betrachtet hatte.
Carsten Jakisch schlenderte von Raum zu Raum. Blieb hier kurz stehen, dachte nach, hob dort ein Laken an, versank in Gedanken, öffnete einen Schrank, schloss ihn wieder, öffnete ihn erneut, ließ ihn offen stehen, blätterte durch die kleine CD -Sammlung. Er war auf der Suche nach einer Inspiration.
In der Wohnung machte sich bereits der Staub unbehauster Zimmer breit, sie roch schon ein wenig muffig, ein Hauch von Parfüm lag auf den Polstern und hing unschlüssig in den Falten der Gardinen. Schließlich blieb Carsten Jakisch mitten im Wohnzimmer stehen. Er schob die Hände in die Taschen seines Kurzmantels und drehte sich um die eigene Achse. Aber sein Blick blieb nirgends hängen. Er spürte lediglich eine Unruhe, die ihn hinaustrieb. Die Zimmer waren so tot wie Samantha Kurzius. In dieser Wohnung stöhnte vorerst niemand mehr. Leise zog er die Tür hinter sich zu und ging nachdenklich die drei Treppen hinunter.
Vor der Haustür wäre der Kemptener Kommissar beinahe mit einer Frau zusammengestoßen, die einen Trolley hinter sich herzog.
»Grüß Gott«, murmelte er entschuldigend und wollte schon weitergehen.
»Passen Sie doch auf, Sie hätten mich beinahe umgerannt.«
»Ich wollt’ Sie g’wiss net umrenna.« Carsten Jakisch war unversehens in Dialekt gefallen. Bisher hatte er sich bemüht, Hochdeutsch zu sprechen. Ein Versuch, den er im Allgäu längst aufgegeben hatte. Dort galt er trotzdem immer noch als »Neigschmeckter«. Vielleicht lag es ja an seinen roten Haaren, dachte er, wenn die Kemptener Kollegen ihn mal wieder auf dem Flur stehen ließen und ohne ihn in die Kantine gingen.
Die alte Frau hatte unversehens ihren Ärger vergessen. Vorsichtig stellte sie ihren Trolley ab. »Sie sind nicht von hier, gell? Kommen Sie vielleicht aus dem Allgäu?«
»Woher wissen Sie das?«
»Ich habe als junge Frau zwei Saisons lang in Missen in einem Gasthof geschafft.« Sie seufzte. »Eine Brauerei ist das gewesen. Eine schöne Zeit. Die Berge, die gute Luft. Na ja, das
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