Ein König für Deutschland
vermutlich.
Das Interview ging noch eine Weile weiter. Die restlichen Fragen drehten sich vorwiegend um biografische Details – wann und wo geboren, warum den Beruf des Lehrers ergriffen und dergleichen –, was eher wie die Pflicht nach der Kür wirkte. Endlich verabschiedete sich der Journalist, und Simon blieb zurück in einer Wohnung, die sich auf einmal still und klein anfühlte. Hatte er es nun einigermaßen bewältigt? Oder hatte er sich endgültig blamiert? Er wusste es nicht.
***
Eine Woche verging in eigentümlicher Stille. Niemand rief ihn an, niemand kam, und wenn er einkaufen ging, behandelten ihn die Frauen an der Kasse kein bisschen anders als früher. Es schien tatsächlich so zu sein, dass der Werbespot erstens nicht so viel Aufsehen erregt hatte, wie Simon zuerst geglaubt hatte, und dass er zweitens auch bei denen, die ihn gesehen hatten, schon wieder in Vergessenheit geraten war.
Er begann gerade selber, alles hin und wieder eine Weile zu vergessen, als eines Morgens ein dicker Umschlag im Briefkasten lag, mit einem Exemplar der Zeitschrift, in der das Interview erschienen war. Mit freundlichen Grüßen stand auf einem Haftnotizzettel, der auf dem Titelblatt klebte, und Sie sind auf Seite 22 . Auf dem Titel selber war eine Frau abgebildet, in der Simon eine Schauspielerin zu erkennen glaubte, und gleich die zweite Schlagzeile lautete »Ein König für Deutschland?«.
Simon ließ das Heft zurück in die Hülle gleiten. Sein Herz pochte plötzlich heftig. Schließlich nahm er den Umschlag mit hinauf in die Wohnung, legte ihn auf den Küchentisch und betrachtete ihn dort erst einmal aus sicherer Entfernung. Was hatte er mit diesem Interview angerichtet? Er spürte den Impuls, das Heft samt Umschlag zu packen und ohne einen weiterenBlick in den Müll zu werfen. Aber damit war es ja nicht aus der Welt; Zehntausende von identischen Exemplaren befanden sich in diesem Augenblick auf dem Weg zu Kiosken, Supermärkten und Buchhandlungen oder lagen bereits in Zeitschriftenständern aus.
Er setzte sich, zog das Heft vollständig heraus und legte es vor sich hin. Immerhin, es sah manierlich aus. Eine Frauenzeitschrift, aber eine aus der edelsten Kategorie.
Er schlug die genannte Seite auf und erblickte sich selbst, wie er vorgebeugt auf seinem Lesesessel saß, das Imitat des Reichsapfels in der Hand. Gedruckt sah das Bild noch weitaus beeindruckender aus, als es auf dem winzigen Display des Fotoapparats gewirkt hatte: geradezu staatstragend. Und hinter dem Titel stand kein Fragezeichen mehr.
Simon las das Interview. Hatte er das wirklich gesagt? Und hatte er es wirklich so gesagt, oder hatte man den Text hier und da etwas abgeändert? Schwer zu sagen. Auf jeden Fall las es sich gar nicht übel.
Zusammen mit den Fotos füllte das Interview fast fünf Seiten. In der letzten Spalte der fünften Seite waren Meinungen von Leuten zu lesen, die man angeblich auf der Straße befragt (und fotografiert) hatte: Was sie davon hielten, wenn Deutschland einen König bekäme? Ein Herbert P. (78) und eine rotwangige Waltraud R. (22) waren dafür, ein Detlef E. (39) und eine Klara M. (52) dagegen, und ein Yilmaz H. (31) erklärte, er sei Türke; ob Deutschland einen König oder einen Präsidenten habe, sei ihm gleichgültig.
Simon blätterte den Rest des Heftes flüchtig durch. Reisebeschreibungen, Körperpflege, Mode und ein Interview mit der auf dem Umschlag abgebildeten Schauspielerin, aber wesentlich kürzer als sein eigenes. Das las er schließlich noch einmal.
Es war nicht peinlich. Nicht im Mindesten. Im Gegenteil, es wirkte richtiggehend seriös. Simon war erleichtert.
Mehr als das: Zu seiner eigenen Überraschung verspürte er den Wunsch, es würde noch einmal jemand anrufen und ihn um ein Interview bitten. Falls sich ihm eine weitere derartige Gelegenheitbieten sollte, würde er sie nutzen, um ein paar der Gedanken zu äußern, die er sich im Lauf seines Lebens gemacht hatte.
Die Sache begann ihm beinahe zu gefallen.
***
Es blieb nicht bei dem einen Artikel. In rascher Folge trafen weitere dicke Briefumschläge mit Zeitschriften darin ein. Das fünfte Magazin, das ihn erreichte, war zwar leider eher ein Blatt aus der Kategorie »unsäglich«, aber immerhin: Sein Konterfei zierte die Titelseite. Von dem Interview war praktisch nichts mehr übrig außer einigen nichtssagenden, aus dem Zusammenhang gerissenen Äußerungen; im Wesentlichen war der Text nur ein Bericht darüber, wie er lebte und wohnte –
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