Ein König für Deutschland
schüttelte den Kopf. »Du spinnst. Man kann doch nicht einfach so … einfach irgendwohin …«
»Wieso? Das ist ganz leicht. Man setzt einen Fuß vor den anderen, und irgendwann biegt man in eine Richtung ab, in die man noch nie gegangen ist.«
Sie hatte einen Knall, das stand mal fest.
Aber wahrscheinlich hatte sie auch recht. Sie waren beide in Gefahr. Miller und Smith hatten ihm unmissverständlich Konsequenzen angedroht, sollte er seinen Auftrag nicht erfüllen. Und er hatte ihn nicht erfüllt.
»Ich werde nach Deutschland gehen«, erklärte Vincent. Immerhin war er Prinz von Deutschland. Das sollte ein gewisses Maß an Sicherheit bedeuten.
Sie ließ die ausgestreckte Hand sinken. Etwas war an dieser Bewegung, das ihm ins Herz schnitt. »Okay«, sagte sie. »Dann alles Gute.«
»Dir auch«, erwiderte Vincent.
Mit einem letzten, rätselhaften Lächeln wandte sie sich ab und ging, verschwand in den herabstürzenden Wassermassen, als träte sie durch einen Vorhang ab. Vincent folgte ihr nur einen Moment später die abschüssige Straße hinab, aber da waren sie und ihr Auto schon weg.
Er stieg in seinen Wagen, klatschnass wie er war, fuhr zurück in Richtung Palermo und bog irgendwann, als es nicht mehr regnete, in ein Wäldchen ab, um trockene Sachen anzuziehen. Er opferte eins seiner T-Shirts, um den Fahrersitz trocken zu reiben, was nicht so richtig gelang. Er öffnete alle Türen, wartete eine Weile, aber dann legte er sich schließlich einfach ein Sweatshirt unter und fuhr weiter.
Sein Mobiltelefon benutzte er wohl besser nicht mehr: Er löschte alle Daten darin und stopfte es in eine Mülltonne am Straßenrand.
Als er zum Auto zurückging, merkte er, dass seine Hände zitterten.
Kurz vor der Stadt nahm er sich ein Zimmer in einer winzigen Pension, deren Wirtin keine Fragen stellte. Er duschte so heiß und so lange, bis seine Haut krebsrot wurde und wehtat und das Zittern nachließ, dann hängte er seine Sachen zum Trocknen auf und versuchte, nicht mehr an den toten Zantini zu denken. Er musste sich überlegen, wie es weitergehen sollte.
Besser, er nahm erst mal kein Flugzeug. Er konnte sich erkundigen, wie man mit einer Fähre aufs Festland kam, und von dort mit dem Zug weiterreisen. Auch wenn das langsamer ging: Hauptsache, er musste keinen Pass vorzeigen, nirgends seinen Namen hinterlassen.
Kurz vor dem Einschlafen an diesem Abend ging ihm auf, dass das heute – dieser Moment, in dem ihm Sirona die Hand hingestreckt und gesagt hatte, Komm! – genau die Situation gewesen war, die er einst ersehnt hatte: auf einmal vor der Wahl zu stehen, weiterzumachen wie bisher oder ins Unbekannte abzubiegen, ins Abenteuer …
Hatte er da was versiebt? Schwer zu sagen.
Offenbar war er doch nicht so abenteuerlustig, wie er immer gedacht hatte.
***
Alex beugte sich vor, um genauer zu sehen, was sich unter der durchsichtigen, aber leicht beschlagenen Abdeckung abspielte. Auf einem metallenen Block saß ein Chip wie ein eckiger, schwarzer Käfer. Er klammerte sich mit Silberbeinen an seinem Platz fest, während ein sirrend rotierendes Werkzeug ihm immer wieder über den Rücken strich und jedes Mal ein paar hauchdünne dunkle Späne abtrug.
»Das ist jetzt der siebte?«, vergewisserte er sich.
»Richtig, Herr Bundeskanzler«, versicherte ihm der Mann von der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt 93 . »Insgesamt haben wir zwölf Stichproben. Jeder EPROM stammt aus einem anderen Wahlgerät, aus einem anderen Ort der Bundesrepublik, und jedes Gerät war ordnungsgemäß versiegelt.«
»Das sagten Sie schon, ja«, bestätigte Alex. »Und Sie haben bisher nichts gefunden? Keinen doppelten Kern oder wie immer man das nennen könnte?«
Der Fachmann – Leiter einer Abteilung, deren Bezeichnung unter anderem das Wort »Halbleiterphysik« enthielt – schüttelte entschieden den Kopf. »Nichts dergleichen. Bis jetzt waren alles ganz normale EPROMs mit 128 Kilobyte Speicherkapazität. Keine Spur eines doppelten Speichers.« Das blasse Gesicht verzog sich zu einem etwas herablassenden Lächeln, die Augen hinter der Brille funkelten angriffslustig. »Wobei, was diese angebliche Umschaltung per Radiosignal anbelangt … Ich weiß nicht, wer Ihnen das erzählt hat, Herr Bundeskanzler, aber meines Erachtens würde das so überhaupt nicht funktionieren.«
»Ach«, sagte Alex. »Und warum nicht?«
Die Hände des Mannes gestikulierten, als betasteten sie einen unsichtbaren, in der Luft schwebenden Gegenstand.
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