Ein König für Deutschland
Zepter. Es handelte sich nur um Repliken des originalen Kronschatzes, der in Wien lagerte, in der Schatzkammer der Wiener Hofburg. Österreich hatte sich geweigert, die historischen Gegenstände für die Krönungsfeier herauszugeben.
Simons Blick wanderte ins westliche Galeriejoch. Dort, im Obergeschoss gegenüber dem Chor, stand der Aachener Königsthron – ein schlichter Sitz aus Marmor, geradezu archaisch in seiner einfachen Form. Es war der höchste Sitzplatz in der Kirche. Dies nun war wahrhaftig der Thron, den Karl der Große hatte bauen lassen und den zwischen 936 und 1531 dreißig deutsche Könige nach ihrer Weihe und Krönung bestiegen hatten.
Auch er, Simon, sollte diesen Thron heute besteigen.
Er sah zu dem kolossalen Radleuchter empor, der in der Kuppel darüber hing. Barbarossaleuchter hieß er, nach Kaiser Friedrich I., den man Barbarossa genannt hatte und der, mittelalterlichem Volksglauben zufolge, nicht gestorben war, sondern nur schlief, in einem Versteck im Kyffhäuser, Trifels oder Untersberg, da war man sich nie einig geworden, und der erwachen und wiederkommen würde, sollte das Reich in Gefahr geraten.
Zweifellos hatten die Menschen, die einst an diese Legende geglaubt hatten, sich nicht vorstellen können, was alles Schreckliches passieren würde, ohne dass der Kaiser sich veranlasst sah, zurückzukehren.
Der Chor verstummte. Erwartungsvolle Stille erfüllte den Dom mit Gänsehaut erzeugender Intensität.
Die Zeit für den Schwur war gekommen.
Der Erzbischof trat an ein Mikrofon, sah Simon an. »Simon«, rief er im psalmodierenden Tonfall des langgedienten Kirchenmannes, »ich frage dich: Schwörst du, dass du als König deine ganze Kraft dem deutschen Volk widmen wirst, um seinen Nutzen zu mehren und Schaden von ihm zu wenden?«
Simon hob die rechte Hand. »Ich schwöre es.«
»Schwörst du, dass du als König die Gesetze wahren und verteidigen wirst?«
»Ich schwöre es.«
Im Zug der umfassendsten Änderungen des Grundgesetzes seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland – Änderungen, die namhafte Rechtsgelehrte als »Verstümmelung«, »barbarische Verunstaltung« oder »Massaker« gegeißelt hatten – hatte man den Wortlaut des Eides, den bisher der Bundespräsident bei Amtsantritt zu leisten hatte 94 , in dieses Frage-Antwort-Spiel umformuliert.
»Schwörst du, dass du als König deine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben wirst?«
»Ich schwöre es.« Ein junger Messdiener, nicht älter als vierzehn Jahre und sichtlich aufgeregt, trat neben Simon und hielt ihm eine gewaltige Bibel hin. Simon legte seine linke Hand auf das Buch und fuhr fort: »All dies schwöre ich, so wahr mir Gott helfe.«
Erstaunlich, wie unauffällig sich das Fernsehen benahm: Erst jetzt bemerkte Simon eine der Kameras, die überall in der Kirche platziert waren, um das Geschehen in Millionen Haushalte zu übertragen. Die ausländischen Nachrichtensender teilten die Vorbehalte ihrer Regierungen gegen die Gültigkeit der letzten Bundestagswahl in Deutschland offenbar nicht; die Übertragung wurde von zahlreichen Netzwerken übernommen, größtenteils ebenfalls als Direktübertragung.
Weitere hilfreiche Hände tauchten rings um Simon auf, nahmen ihm das Obergewand ab. Darunter trug er ein Unterkleid mit kurzen Ärmeln und Öffnungen auf Brust und Rücken. Simon fragte sich, wie viele Zuschauer wohl wussten, dass sich dieser Teil des Rituals an das Zeremoniell der Königskrönungen des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation anlehnte, wie sie vom Mittelalter bis in die Neuzeit üblich gewesen waren.
Die Salbung. Noch bei der Krönung der britischen Königin Elizabeth II., der ersten Krönung, die weltweit im Fernsehen übertragen worden war 95 , hatte man die Salbung als so heilig betrachtet, dass die Kameras währenddessen ausgeschaltet worden waren.
Im 21. Jahrhundert kannte man solche Bedenken offensichtlich nicht mehr. Im Gegenteil, die schimmernden Objektive rückten erst recht näher heran, als Simon aufstand, einen Schritt vortrat und auf dem vor dem Altar bereitliegenden Kissen niederkniete.
Weihevolle Bewegungen. Männer in sakralen Gewändern, von denen einer einen goldenen Löffel hielt, ein anderer eine kleine Flasche entkorkte und daraus Öl in den Löffel goss. Der Erzbischof, der Coronator 96 , der zwei seiner Finger in dieses Öl tauchte und Simon damit salbte: Am Scheitel, auf der Brust, im Nacken, zwischen den Schultern, auf dem rechten
Weitere Kostenlose Bücher