Ein König für Deutschland
wenn wenigstens drei Schüler geantwortet hatten. Ein so vertrautes Ritual, zu sehen, wie sie dasaßen und grübelten und wegschauten und allzu sichtbar hofften, nicht aufgerufen zu werden, dass Simon darüber mühelos in das zurückfand, was er als sein normales Leben bezeichnet hätte. Die Turbulenzen von heute Morgen: Er hatte sie beinahe vergessen, als die dritte Antwort kam und die Klasse kollektiv aufatmete.
»Heute wollen wir uns mit der Frage beschäftigen, wie im Mittelalter jemand eigentlich König wurde«, erklärte Simon und griff nach einem Stück Kreide. »Wir schreiben das Jahr 1024, Heinrich II. ist tot, und es gibt keinen Thronfolger. Was tut man in so einer –?«
Er hielt inne. Sein Blick war durch das Fenster hinaus auf den Schulhof gefallen, auf die Reihe der Pflanzkübel aus Waschbeton, die alle Schüler als nicht zu übertretende Grenze zu akzeptieren gelernt hatten.
Jenseits dieser Kübel stand ein Indianer mit bunt bestickter Kleidung, prächtigem Federschmuck – und einem Handy am Ohr.
KAPITEL 16
D ie Kinder stürzten aufgeregt an die Fenster, sahen ihn also auch. Immerhin. Das hieß, dass er sich diese Gestalt nicht nur einbildete. Was beruhigend zu wissen war.
»Ruhe«, mahnte er. »Setzt euch wieder hin. Wer immer das ist, es ist ganz bestimmt kein echter Indianer, sondern jemand, der entweder unterwegs zu einem Kostümfest ist oder gerade von einem kommt.«
Nach und nach kehrten sie auf ihre Plätze zurück. Während er darauf wartete, dass wieder so etwas wie Ruhe einkehrte, betrachtete Simon den Mann unten auf der Straße genauer. Breitschultrig war er, etwas kleiner als normal, und den Gesichtszügen nach zumindest ein Mitteleuropäer. Verkleidet, ohne Zweifel. Aber beeindruckend. Die Jacke mit Fellbesatz hätte die sein können, die Simon einmal im Völkerkundemuseum eingehend betrachtet hatte.
Sein Blick schien das Schulgebäude abzusuchen, während er telefonierte.
Simon trat unwillkürlich vom Fenster weg.
Im nächsten Moment ärgerte er sich über sich selbst. Sich so durcheinanderbringen zu lassen von einem dummen Brief! Er verbot sich, noch einmal aus dem Fenster zu sehen, und konzentrierte sich auf die Umstände der Wahl Konrads II. zum König und seinen Weg zur Kaiserwürde.
Erst am Ende der Stunde – die glücklich ohne dumme Witze über die Bühne gegangen war – blickte Simon noch einmal auf den Hof hinab, aber da war der Indianer längst wieder verschwunden.
***
Ein Indianer am Straßenrand, da war kaum ein Irrtum möglich. Leo lenkte den alten Mercedes an den Bordstein und hielt so, dass der untersetzte Mann mit dem Federschmuck sich nur vorzubeugen und die Tür hinten links zu öffnen brauchte.
»Hast du die Sachen?« Die Federn raschelten, als er auf den Rücksitz glitt.
»Wie bestellt.« Leo hievte das Bündel vom Beifahrersitz nach hinten.
»Super.«
Leo warf einen flüchtigen Blick in den Rückspiegel. Tatsächlich: Er zog sich auf dem Rücksitz um. Natürlich trug er auch wieder keine Unterhose, sondern bloß einen Lendenschurz. Stilecht eben …
»Wie war dein Wochenende?« Leo musterte die Fassaden rechts und links voller Unbehagen: dutzende Fenster, von denen aus man verfolgen konnte, was in diesem Auto vor sich ging.
»Na, toll natürlich«, kam es von hinten. Stoff raschelte, Gliedmaßen stießen an Sitze und Türen.
»Wir hatten letzte Nacht drei Grad minus«, sagte Leo.
»Hab ich mir fast gedacht, so saukalt, wie es in meinem Zelt –« Sein Mobiltelefon unterbrach ihn zwitschernd. »Ja? Ah, endlich! Wo treibst du dich denn rum? Hast du meine SMS gekriegt über den Typ mit den gefälschten Waffen? Gut. Ich hab die Faxen jetzt dick mit dem. Leg ihn um. Nein, keine Warnung mehr. Knips ihn aus und gut.«
Schweigen. Leo hörte die quäkende Stimme im Hörer, verstand aber kein Wort. Er sah auf die Uhr. Das dauerte alles viel zu lange.
»Am liebsten wär’s mir, du machst es sofort. Auf jeden Fall brauch ich dich heute Nachmittag hier draußen bei der … Warte, wie heißt die Schule? Ja, genau. Gut, pass auf: Der Typ hat Unterricht bis zur achten Stunde, das ist bis um halb vier. Danach schnappen wir ihn uns. Was? Ja, logisch. Jeder stellt sich an einen anderen Ausgang, und wer ihn erwischt, hat gewonnen. Alles klar. Bis dann.« Das Klamottengeraschel ging weiter.
»Woher weißt du das mit der achten Stunde?«, fragte Leo.
»Ich hab angerufen. Im Rektorat. Hab behauptet, ich sei der Vater von Markus und brauche einen Termin.«
»Was
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