Ein König für Deutschland
glauben, man könne alles aus dem Stand heraus besser machen. Beton war das Resultat gewesen, der inzwischen grünschimmlig verrottete, und Flachdächer, die seit Jahren leckten, ohne dass irgendeine der vielen Firmen, die man hatte kommen und gehen sehen, imstande gewesen war, etwas daran zu ändern. Deswegen gehörten mittlerweile ein Dutzend Plastikbadewannen, die man bei Bedarf unterstellen konnte, zum festen Inventar der Schule.
Was die Atmosphäre anbelangte, die im Inneren des Gebäudes herrschte, hatte er es aufgegeben, sich dazu zu äußern. »Wie in einer U-Bahn-Station«, hatte ein Fünftklässler einmal gesagt, und das, fand Simon, fasste es besser zusammen als alles, was er sonst an Kommentaren gehört hatte.
Die große Pause war schon in vollem Gang, als er ankam. Was hieß, dass er später dran war als üblich; er bemühte sich immer, das Lehrerzimmer erreicht zu haben, ehe die Pausenklingel ertönte und die Stampede hinab in den Schulhof losbrach. Erstens, um nicht niedergetrampelt zu werden, und zweitens, um genügend Zeit zu haben, sich vorzubereiten.
Weil ihm am Haupteingang zu viel los war, umrundete Simon König das Gebäude, um es durch einen der zahlreichen Seiteneingänge zu betreten. Dabei sah er, wie ein paar Schüler der siebten oder achten Klasse in der Deckung eines großen Rhododendrons beisammenstanden, wie einer von ihnen einem anderen eine Hülle mit einer CD darin aushändigte und wie sie alle zusammenzuckten, als sie ihn bemerkten, sich aber bemühten, sich nichts anmerken zu lassen. Wieder einmal irgendetwas Raubkopiertes. Nicht schwer zu erraten.
Simon ärgerte sich, als er das sah. Erstens, weil ihm dieser Vorfall die dubiose CD von Vincent wieder in Erinnerung rief, und zweitens, weil er sich dadurch, dass er sie bei sich versteckt hatte, moralisch geschwächt fühlte. Zu gerne wäre er bei den Schülern gerade eben streng dazwischengegangen, aber so fehlte ihm das Standvermögen dazu.
Hoffentlich meldete sich Vincent bald. Und sei es nur, damit Simon ihm sagen konnte, was er von Ansinnen wie dem seinen hielt.
Im Lehrerzimmer war wenig los. Ein paar Kollegen aus den Naturwissenschaften diskutierten leise, eine Kollegin korrigierte Arbeiten, einer der Sportlehrer saß im Trainingsanzug am Internet-PC und schaute sich irgendwelche Börsenkurse an. Man munkelte, er habe ziemlich viel Geld mit Spekulationen verloren. Ein Grund mehr, dass Simon froh war, sich nie näher mit diesem Internet beschäftigt zu haben. Das war doch nur noch ein Medium mehr, das die Leute durcheinanderbrachte.
Was die Vorbereitung auf den Unterricht anbelangte: Für jemanden mit seiner Berufserfahrung war das natürlich nur noch ein Ritual. Den Stundenplan kannte er auswendig, genau wie die aktuellen Lehrpläne. Auch ohne nachzusehen wusste er, dass erin der fünften Stunde Gemeinschaftskunde in der 12B hatte, dass das derzeitige Thema Legitimität und Herrschaft lautete und sogar, dass dafür 18 Unterrichtsstunden vorgesehen waren. Rousseau, Montesquieu und Weber hatten sie schon durch, heute würde es um John Locke gehen. Da konnte man die Anekdote erzählen, dass dieser sein Hauptwerk, Zwei Abhandlungen über die Regierung , aus Furcht vor Repressalien anonym veröffentlicht, alle Spuren verwischt, sogar sein Manuskript vernichtet und sich erst in seinem Testament dazu bekannt hatte: So etwas faszinierte die Schüler regelmäßig, vermutlich, weil es wie aus einem Hollywoodfilm klang.
Und jetzt gleich, in der vierten, war eine ganz spezielle Unterrichtseinheit dran. In der 8A ging es zurzeit um das Mittelalter, um das Thema Glaube und Herrschaft, und heute wollte er die Grundlagen der Königsherrschaft durchnehmen. Die Herausforderung bestand darin, den Unterricht so fesselnd zu gestalten, dass die oberschlauen Witzbolde in der Klasse vergaßen, anzügliche Witze über seinen Nachnamen zu machen.
Was ihm in den letzten Jahren fast immer gelungen war.
Es klingelte schon zum Pausenende. Simon hängte noch hastig seinen Mantel auf, schnappte sich dann seine Tasche und machte sich auf den Weg.
Immer noch fühlte er sich unruhig, aufgewühlt. Ein schlechtes Zeichen. Vielleicht würden heute die Witzbolde gewinnen.
»Der König kommt!« Er hörte den Alarmruf schon von weitem durch die Gänge hallen, gefolgt von hastigem Getrappel. Wie immer. Und wie immer ließ er sich nichts anmerken.
Er begann jede Unterrichtsstunde damit, abzufragen, worum es das letzte Mal gegangen war, und machte erst weiter,
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