Ein König für Deutschland
Menschenverstand. Ich meine, wann ist diese Schule gebaut worden? Mitte der Siebziger, wenn wir demnächst 35-Jahr-Feier haben. Damals hatte die Bundesrepublik Deutschland offenbar das Geld, Schulen zu bauen. Und heute, fünfunddreißig Jahre vielleicht geringen, aber alles in allem stetigen Wirtschaftswachstums später, soll nicht einmal mehr das Geld da sein, die Schulen zu unterhalten? Die Schulen, in denen die Generationen herangebildet werden sollen, die diesen Staat eines Tages übernehmen werden, wohlgemerkt. Und es ist kein Geld da, die Löcher im Dach zu reparieren? Da stimmt doch etwas nicht.«
Bernd wickelte an seinen Spaghetti. »Mal ganz zu schweigen von den abgewetzten Teppichen im Treppenhaus. Die werden allmählich richtig gefährlich.«
»Ganz zu schweigen auch von der Ausstattung der Schulbücherei.«
»Oder davon, dass von allen Lehrertoiletten nur noch eine einzige einen funktionierenden Trockenlüfter hat. Das ertragenwir ja mannhaft.« Bernd fingerte an einem Tomatenfleck auf seinem Pullover herum. »Seit fünf Jahren inzwischen. Oder sechs?«
»Das meine ich«, sagte Simon. »Wo ist das viele Geld? Wo ist all der Wohlstand? Und wenn der Wohlstand Deutschlands immer weiter zugenommen hat, wieso können sich die Leute dann keine Kinder mehr leisten? Wieso können kaum noch Mütter zu Hause bleiben? Da stimmt doch was nicht.«
»Früher hat man allerdings auch bescheidener gelebt«, gab Bernd zu bedenken. »In den Siebzigern, du meine Güte – welche Familie hatte da zwei Autos? Wir hatten noch einen Schwarz-Weiß-Fernseher, stell dir das vor. Die Kinder heute wissen nicht mal mehr, was das überhaupt ist.«
Gemeinsam schauten sie versonnenen Blicks über das lebhafte Wogen, Kommen und Gehen an den Schülertischen. Schüler, die neben dem Essen mit ihren Handys telefonierten oder SMS-Nachrichten tippten. Schüler, unter denen diejenigen ohne Zugang zu einem Computer mit Internetanschluss die seltene Ausnahme waren.
»Die Ansprüche sind gestiegen«, fuhr Bernd fort. »Das spielt auch eine Rolle. Du wirst heute bombardiert mit Werbung für alle möglichen unnötigen Dinge, und bei vielen wirkt das. Auf einmal sind die nicht mehr unnötig, sondern im Gegenteil unerlässlich. Also gibt man sein Geld dafür aus, und weg ist es.«
»Und die Wirtschaft floriert.« Simon musterte seinen Kollegen über den zugerichteten Fleischkäse hinweg. »Manchmal habe ich das Gefühl, das ist alles ein großer Schwindel. Dass wir uns arm arbeiten, und zwar umso schneller, je mehr wir uns anstrengen.«
»Du solltest in die Politik gehen, Simon.«
Simon lachte auf. »In die Politik? Nein, mein Lieber. Ich geh in Pension, und das so früh wie möglich.«
KAPITEL 17
N ach der Mittagspause hatte Simon König die 10A noch einmal, diesmal in Gemeinschaftskunde zum Thema Wahlrecht, Parteien, parlamentarisches Regierungssystem: Da ließ sich gut an die letzte Vormittagsstunde anschließen.
In der achten Stunde schließlich die 8C. Es ging um den absolutistischen Staat, um Ludwig XIV. und die Anfänge der Aufklärung. Der Lehrplan träumte davon, dass die Schüler verstanden, wie die Aufklärung zur französischen Revolution führte und die Grundlagen der Moderne legte, aber das war natürlich reichlich viel verlangt von Achtklässlern. Wie immer würde er sich damit zufriedengeben, wenn sie ein paar wichtige Jahreszahlen und Stichworte im Gedächtnis behielten. Wobei die 8C eine ausgesprochen ruhige, strebsame Klasse war; das würde schon klappen. Und Ludwig XIV. mit seinem Hofstaat, das war ein bunt zu schilderndes Thema, sodass nicht zu befürchten stand, dass jemand einschlief. So spät am Tag musste man darüber schon froh sein.
Nach der letzten Stunde ging Simon wie stets noch einmal ins Lehrerzimmer. Er legte seine Bücher zurück in den Schrank, sah in seinem Briefkorb nach, ob irgendwelche Briefe oder dergleichen für ihn eingetrudelt waren – was nicht der Fall war. Das Übliche eben.
Er hatte es nicht eilig. Wenn ein Tag vorüber war, liebte er es, ihn langsam ausklingen zu lassen, alles abzuschließen, nichts unerledigt zu wissen. Er war keiner von denen, die aus der Schule flüchteten, wieso auch? Es erwartete ihn ja niemand. Seine Wohnung zu Hause war still und leer, und nicht selten war sie ihm zu still und zu leer. Nein, er hatte es nicht eilig.
Es war auch noch ein Schluck Kaffee in der Kanne. Das war gut, denn neuen zu machen lohnte sich um diese Zeit nicht mehr. Es gab keine halbe Tasse
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