Ein König für Deutschland
auf die Idee, ich würde einfach mit Ihnen irgendwohin gehen?«
Der andere verzog das Gesicht. »Das kann ich Ihnen nicht sagen. Nur, dass es wichtig ist.«
Irgendwie sah er aus, als sei er entschlossen, nicht lockerzulassen. Als würde er Simon, falls dieser einfach um ihn herumgehen und seinen Heimweg fortsetzen sollte, notfalls bis nach Hause folgen. Oder ihn – was für ein Gedanke! – sogar festhalten. Bei seinem Gewicht, überlegte Simon, brauchte er sich einfach nur an einem Opfer festzukrallen, um es zur Bewegungsunfähigkeit zu verdammen.
Besser, er versuchte, ihm aus dem Weg zu gehen. Unauffällig natürlich.
»Wichtig, sagen Sie?«, wiederholte Simon und bemühte sich, so zu wirken, als ließe er sich das tatsächlich durch den Kopf gehen.
»Ja«, meinte der andere, offensichtlich erfreut über Simonsplötzliche Kooperationsbereitschaft. »Es ist auch nicht weit, nur – na, hundert Meter oder so. Und es wird nicht lange dauern.«
Simon nickte. »Gut. Dann gehen wir doch einfach … Ah!«, unterbrach er sich und fasste in die Tasche seines Jacketts. »Warten Sie. Ich merke gerade, dass ich noch den Schlüssel zum Kartenraum bei mir habe; den muss ich beim Hausmeister abgeben, bevor der zumacht. Dauert nur einen Moment, ich bin gleich zurück.«
Damit drehte er sich um und eilte zum Haupteingang, und o Wunder, der Bluff schien zu funktionieren: Der Kerl blieb abwartend stehen, folgte ihm nicht.
Natürlich hatte Simon nicht im Mindesten die Absicht, zurückzukehren. So wenig, wie er tatsächlich einen abzugebenden Schlüssel in der Jackentasche trug. Kaum war die Tür des Haupteingangs hinter ihm zugefallen, eilte er nach links zur nächsten Treppe, die eine Etage tiefer führte. Er würde das Gebäude einfach durch den Ausgang B verlassen, der auf die Parkplätze ging. Von dort aus kam er mit ein paar Umwegen genauso gut nach Hause.
Himmel, in was hatte Vincent ihn da nur hineingezogen? Keine Frage, dass das alles etwas mit dem Brief und der CD zu tun haben musste. In über dreißig Jahren an dieser Schule war ihm kein einziges Mal jemand so seltsam gekommen wie dieser Kerl mit seinem Sturmbannführermantel. Am selben Tag, an dem der Brief von Vincent angekommen war. Wenn das ein Zufall war, fraß er einen Besen.
Simon erreichte das untere Ende der Treppe, eilte geradeaus weiter. Seine Schritte hallten in den Gängen aus nacktem Beton. Selten war ihm die Architektur dieses Gebäudes bedrückender vorgekommen, hatte sie ihn so stark an eine Fabrik erinnert oder, ja, an ein Gefängnis.
Rechts abbiegen. Links ging es zur Turnhalle, ein Durchgang führte zu den Schließfächern, deren Zustand ein steter Grund zu Kummer darstellte.
Der Parkplatz lag weitgehend leer. Zwei, drei Autos standen noch da, soweit Simon das sehen konnte, während er auf die Türen aus dunklem Glas und Metall zueilte.
Was mochte es mit dieser CD auf sich haben? Waren darauf irgendwelche Dokumente oder Daten gespeichert, die Vincent nicht hätte besitzen dürfen? Hinter denen gefährliche Leute her waren? Irgend so etwas musste es sein.
Was für eine Zumutung, ihn in so eine Geschichte zu verwickeln. Irgendwie war das charakteristisch für ihre Beziehung. Vom ersten Brief an hatte Vincent sich nie viele Gedanken darüber gemacht, was das, was er tat, bei ihm, Simon, auslösen würde. Wobei Simon sich sagte, dass er alles, was ihm widerfahren war, verdient hatte. Er hatte moralisch versagt und ein Kind gezeugt, das ohne Vater aufwachsen musste; er durfte sich wahrhaftig nicht beschweren.
Was für eine tragische Entwicklung der Dinge. Sie hatten einander noch nie gesehen! Die wenigen Fotos, die er von Vincent besaß, hatte ihm Lila geschickt, und auf dem letzten davon war Vincent dreizehn oder vierzehn Jahre alt. Dann war sie umgezogen, ohne ihm ihre neue Adresse mitzuteilen, und der Kontakt war für lange Zeit abgebrochen. Heute mochte Simon seinem Sohn auf der Straße über den Weg laufen und würde ihn nicht einmal erkennen.
Er blieb abrupt stehen. Steckte das dahinter? War der Junge vorn auf dem Schulhof ein Bote gewesen, den Vincent ihm geschickt hatte?
Aber nein, das hätte er sicher gesagt. Er hätte Vincents Namen erwähnt oder zumindest gesagt, dass Vincent ihn geschickt hatte …
Oder – Simon schnappte nach Luft – war das am Ende Vincent selber gewesen?
Unsinn. Der junge Mann hatte einwandfreies Deutsch gesprochen, mit einem Akzent, der auf eine Herkunft aus Hessen schließen ließ. Vincent dagegen sprach
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