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Ein Kreuz in Sibirien

Ein Kreuz in Sibirien

Titel: Ein Kreuz in Sibirien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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obwohl der Barackenälteste sie schon weit genug aufhielt, und blieb nach drei Schritten im Mittelgang stehen. Polewoi hob ratlos die Schultern, als der Barackenälteste ihn fragend anstarrte. Zu beiden Seiten des Ganges keuchten und röchelten die Kranken auf ihren Pritschen. Es roch widerlich sauer und legte sich auf die Lunge. Man hätte selbst würgen können.
    »Nicht genug Eimer haben wir, Genossin Chefärztin«, sagte der Älteste. »Verzweifelt sind wir.«
    Die Tschakowskaja beachtete ihn mit keinem Blick. Sie ließ ihre Augen über die Pritschen gleiten, und dann lächelte sie. Wirklich, sie lächelte, die Mundwinkel verschoben sich, und es war ein merkwürdiges, drohendes, kaltes Lächeln, das keiner, der es sah, schön finden konnte.
    »Alles raus!« sagte sie mit ihrer klaren hellen Stimme. Sie brauchte nicht zu schreien, man verstand sie bis in den letzten Winkel der Baracke. »Alle! Auf dem Platz antreten. Alle arbeitsfähig.«
    »Genossin«, stammelte hinter ihr Professor Polewoi entsetzt. »Genossin Chefärztin, sie krümmen sich vor Schmerzen.«
    »Arbeitsfähig!« wiederholte sie laut.
    »Sie kotzen sich die Mägen aus. Sind schwach wie Würmer …«
    »Auch der schwächste Wurm kann noch kriechen und bohrt sich in die Erde«, sagte sie kalt. »Genau das sollen sie tun! Arbeitsfähig.«
    Sie wandte sich an die Sanitäter, hob zwei Finger und rief: »Zwei Mann sorgen für die Räumung des Blocks!« Dann drehte sie sich um, stapfte an dem fassungslosen Polewoi vorbei und verließ die Baracke.
    Nun wußte man, wozu sie zehn Sanitäter mitgenommen hatte. Die Selektion des gesamten Lagers dauerte keine halbe Stunde. Von Baracke zu Baracke ging es, und überall gab es nur das eine Wort: »Arbeitsfähig!« Dann blieb jeweils ein Sanitäter zurück, der alles hinaus auf den großen Appellplatz jagte und dann unter den Betten, im Waschraum und in den Toiletten nach Versteckten suchte.
    Schon nach der dritten Baracke hatte Oberstleutnant Rassim die unglaubliche Meldung entgegengenommen: Die Tschakowskaja bezeichnet alle als arbeitsfähig.
    Rassim zog seinen Rock wieder an und rannte hinüber zum Lager. Leutnant Sotow, mit dem er gerade den Dienstplan durchsprechen wollte, folgte ihm. An der neunten Baracke hatten sie die Tschakowskaja eingeholt. Sie trat gerade hinaus ins Freie, während im Inneren des Hauses ein großes Geschrei angestimmt wurde. Sie schien es gar nicht zu hören. Rassim starrte sie ungläubig an. Auf dem großen Platz rannten jetzt die Insassen der anderen, bereits selektierten Baracken zusammen und stellten sich appellmäßig auf.
    »Träume ich, Genossin?« sagte Rassim ratlos.
    »Sie sollten jubeln, Rassul Sulejmanowitsch.« Ihr Blick flog über die heranlaufenden, elenden, zerlumpten, verhungerten, schwankenden Gestalten. »Warum jubeln Sie nicht? Das ganze Lager ist arbeitsfähig!« Aus den Baracken wurden jetzt von ihren Kameraden diejenigen Kranken angeschleppt, die nicht gehfähig waren. Kraftlos schleiften ihre Füße durch den Staub. »Alle! Mehr wollten Sie doch nicht!«
    »Larissa Dawidowna, was ist los mit Ihnen?« fragte Rassim vorsichtig und trat nahe an sie heran. Leutnant Sotow ging hinüber zu den bereits angetretenen Blocks. Jenseits der Holzpalisaden hörte man den Motorenlärm der auffahrenden Transporter, die die Brigaden zur Erdgas-Trasse bringen sollten. »Ich kenne Sie nicht wieder!«
    »Wer kennt mich denn?« Als sie ihn jetzt voll anblickte, zuckte er fast zurück. Die Augen eines Tigers, dachte er erschrocken. Kalt, mitleidlos, mörderisch. Vor diesen Augen ist jedes Wort umsonst, jede Frage, jede Antwort.
    Sie ließ Rassim stehen, ging hinüber zur letzten Baracke und trat wieder die Tür gegen die Wand. Hier waren ausschließlich Kriminelle untergebracht.
    Die Tschakowskaja stutzte. »Kein Magenkranker?« rief sie.
    Der Barackenälteste wieselte herbei, stand stramm und grinste breit. Er war ein Lebenslänglicher, weil er eine Sowchose um zehntausend Liter Sonnenblumenöl betrogen hatte. In zwei Jahren. Man hatte ihn monatelang streng verhört, aber er hatte nie gesagt, wo er die eingehandelten Tausenden von Rubeln versteckt hatte.
    »Kein Kotzer, Genossin Chefärztin!« sagte das Wiesel. »Die Krankheit ist an uns vorbeigegangen. Wir liegen ja auch mit unserer Baracke ganz hinten.«
    Die Tschakowskaja schwieg. Sie sagte nicht ihr gefürchtetes ›Arbeitsfähig‹, sondern sah Professor Polewoi an, der bleich, um Jahre gealtert, hinter ihr stand und die Welt

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