Ein Kreuz in Sibirien
und winkte mit ihnen der wieder errötenden Nina Pawlowna zu. Er zeigte mit den Heften zum Schlafzimmer und ging voraus, seine Hosenträger bereits von der Schulter streifend. Die Leonowa folgte ihm und band dabei ihre Schürze ab. Abukows Anwesenheit schien die beiden überhaupt nicht zu stören; er verließ Gribows so gastliche Wohnung fast fluchtartig.
Auf dem Weg zur Kommandantur machte er einen Schwenker zu Mustai und fand ihn beim Brauen neuer Limonade. Die uralte Wasserpumpe knirschte und ratterte, aber das Wasser, das sie aus der Tiefe förderte, war kristallklar und ohne jeden Nebengeschmack. Mustai hielt Abukow einen Becher voll hin.
»Das Geheimnis meiner Limonade!« schrie er dabei begeistert. »Keiner macht mir das nach. Mirmuchsins Limonade ist die beste von ganz Rußland. Ehrlich, Brüderchen, hast du schon so ein Wasser getrunken? Wonach schmeckt es? Nach Chlor, nach Schwefel, nach Bittersalz, nach saurem Grund? Nein! Die Zunge badet sich in einem Wasser, das im Urstein gefiltert wurde. Kristallenes Taigawasser!«
»Und daraus machst du eine süße Jauche«, sagte Abukow frech, klopfte Mustai auf den Rücken und setzte sich an den Tisch mit den vielen Gläsern voller Essenzen und anderer Geheimmittel, mit denen Mustai seiner Limonade den besonderen ›Mirmuchsin-Geschmack‹ verlieh. »Was gibt es Neues?«
»Waldmeister und Aprikosen.«
»Im Lager, du Idiot!«
»Nichts Neues.« Mustai stellte das Pumpen ein. Das Kreischen verstummte, es war plötzlich unheimlich still. Eine Stille, die sich rätselhaft aufs Herz legte wie ein schwerer Stein. »Larissa Dawidowna … wir verstehen sie nicht mehr.« Er hob die Schultern und setzte sich neben Abukow auf die Holzbank. »Mit dem Professor spricht sie kaum noch, eure christliche Gemeinde ist voll Sorge. Ein Glück, daß du gekommen bist, Victor Juwanowitsch. Nicht auszudenken, wenn das passiert wäre, ohne daß ein Priester ihnen neue Kraft gibt. Alles würde zusammenbrechen.«
»Vielleicht ist es nur passiert, weil ich gekommen bin«, sagte Abukow leise und starrte gegen die Wand.
»Wie soll man das verstehen?« fragte Mustai völlig entgeistert.
»Wer kann das überhaupt verstehen?« Abukow legte den Arm um Mustais Schulter. »Du bist mein Freund, Mustai.«
»Vielleicht der einzig wirkliche, den du hast, Victor.«
»Ganz sicher. Der einzige. Das weiß ich.«
»Und ich bin Mohammedaner.«
»Solange wir an eine Allmacht Gottes glauben, sind wir Brüder. – Mustai, du anerkannter Idiot …«
Mirmuchsin grinste breit und legte auch seinen Arm um Abukows Schulter. Sie saßen da, als wollten sie gleich aufspringen und Schulter an Schulter einen kalmückischen Tanz tanzen.
»Ich möchte dir ein Märchen erzählen«, sagte Abukow. »Ein ganz dummes vielleicht in deinen Augen, aber es ist ja auch nur ein Märchen. Paß auf! – In einem fernen Land lebte einmal ein Mann, der schon im Alter von zehn Jahren sein Elternhaus verlassen hatte, um in einer Gemeinschaft von vielen klugen und geehrten Männern alles zu lernen, was über die Welt und die Menschen, den Himmel und die Erde bekannt war. Und als er eines Tages erwachsen war und soviel wußte wie wenige andere, wollte auch er eintreten in diesen Bund der gottesfürchtigen Männer, der sich ›Kongregation vom Heiligen Kreuz‹ nannte und nach strengen Regeln lebte. Eine dieser Regeln verbot die fleischliche Lust und bestimmte, daß jeder Mann, der dem Orden beitreten wollte, das heilige Gelübde der ewigen Keuschheit leisten mußte …«
»Und solche Idioten gab es?« fragte Mustai ahnungslos; es lag ihm fern zu vermuten, daß Abukow über sein eigenes Schicksal berichtete. »Wie will man klug sein, obwohl man das Schönste am Leben verdammt: Die Liebe einer Frau? Oder mußten sie Frauen bewachen? Das gab's auch bei uns, in ganz frühen Zeiten, bei den Sultanen. Eunuchen nannte man die, denen man die Männlichkeit einfach wegschnitt.« Mustai winkte ab und schüttelte den Kopf. »Nichts Neues. Man schnitt also deinem Mann das einfach weg …«
»Ein Märchen ist's nur, Mustai«, erklärte Abukow geduldig.»Nein, man schnitt nichts weg, man verlangte nur den Schwur. Und der Mann im fernen Land schwur ewige Keuschheit, wurde in die Gemeinschaft der Männer aufgenommen, man weihte ihn, und nun war er der Glücklichsten einer. Er kannte ja von Kind an nichts anderes als diese Männergemeinschaft und ihr Leben im Dienste der Wissenschaften.«
»Welch schreckliches Leben!« unterbrach ihn Mustai
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