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Ein Kreuz in Sibirien

Ein Kreuz in Sibirien

Titel: Ein Kreuz in Sibirien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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wieder. »Ist das ein Leben, je, frage ich? Studiert alle Klugheit, will damit das Leben erforschen und hat keine Ahnung, was Leben wirklich ist. Hierhin sollte er mal kommen, dieser kluge Blinde!«
    »So lebte also dieser Mann – im Märchen, Mustai! – in vollem Frieden mit sich und seiner Welt in einer großen, herrlichen Stadt, im Angesicht des Auserwählten, der sich Gottes Stellvertreter auf Erden nannte.«
    »Ist das ein Märchen voller Verrückter?« fragte Mustai und löste seinen Arm von Abukows Schulter. »Victor Juwanowitsch, es gibt bessere Märchen. Laß dir eins von mir erzählen. Das Märchen von dem Bauern, der zusieht, wie sein Knecht bei der Bäuerin den Teufel herausstößt – ha, das ist lustiger!«
    »Eines Tages – Mustai, hör dir das Märchen zu Ende an, bitte! – begegnet dieser Mann mit seinem Gelübde der Keuschheit einer Frau. Einer unbeschreiblich schönen, wilden Frau, und es fährt wie ein Blitz in sein Herz.«
    »Nur in sein Herz?« fragte Mustai schnell und grinste breit.
    »Mustai! – Der Mann sieht diese herrliche Frau mit Augen, die nach seinem Gelübde Sünde sind. Er träumt von ihr in langen, qualvollen Nächten. Er sehnt sich nach ihr, wenn er allein ist. Und er läuft vor ihr weg, wenn er ihr begegnet. Seine Gedanken zerreißen alle Schwüre. Was bisher der Felsen seines Lebens war, zerbricht in der Flut seiner Gefühle. Er kennt nur noch diese eine Frau. Er zerreißt sich in diesem einen Wunsch, sie zu besitzen – doch steht er ihr gegenüber, und könnte er sie an sich ziehen, dann …«
    »… benimmt er sich wie ein Schaf, das bis zum Hals im Wasser steht und jämmerlich blökt.«
    »So ähnlich, Brüderchen. Fast so …«
    »Welch ein jämmerliches, schlechtes Märchen! Wo kommt's her? In welchem fernen Land können solche Idioten leben? Und warum erzählst du mir so was? Soll ich den Mann bedauern? Victor Juwanowitsch, dem Mann ist nicht mehr zu helfen, er verleugnet das Leben.«
    Mustai griff nach einem Becher Limonade, ließ erst Abukow trinken und leerte ihn dann ganz. »Ist das eine Limonade, was? Waldmeister in einer geheimen Mischung! So ist die Wahrheit: Geheimnisvoll und süß – und ein Schwachkopf ist jeder, der nicht davon trinkt und sich daran labt.« Er stellte das Glas zur Seite. »Wie geht's weiter mit dem Idioten?«
    »Das war das Ende.«
    »Was?«
    »Bis heute – ein Märchen ist's, Mustai! – irrt der Mann herum zwischen Himmel und Hölle und fragt sich, fragt jeden, dem er begegnet, fragt seinen Gott und fragt Sonne, Mond und Sterne, fragt die Blumen auf der Wiese und die Bäume im Wald, fragt die Vögel in der Luft und die Tiere in ihren Höhlen: Was soll ich tun? Wer gibt mir einen Rat? Und so irrt er herum, ruhelos, nie befreit von dem Bild der Frau, das in seinem Herzen leuchtet.«
    »Ein armer Mann«, sagte Mustai und stand auf. »Warum kann er nicht sehen?«
    »Er kann sehen.«
    »Nein! Denn wenn er sehen könnte, würde er erkennen, daß alles auf dieser Erde sich liebt: die Vögel auf den Zweigen, die Hirsche im Wald, die Murmeltiere in ihren Erdgängen, die Bären in ihren Höhlen, die Wölfe im Farn – alles liebt sich, denn kahl und leer wäre diese Welt ohne Liebe. Ausgestorben, Victor Juwanowitsch, eine blanke Kugel!« Mustai ging wieder zu seiner Pumpe und holte aus der Tiefe des Taigabodens sein kristallreines Wasser heraus. »Noch nie habe ich ein so dummes Märchen gehört«, sagte er in das Quietschen der Pumpenstange hinein. »Noch nie! Viel Schwachsinnige gibt es in den Märchen, aber dieser Mann ist der Schwachsinnigste von allen!«
    »So ist es, Mustai Jemilianowitsch.« Abukow erhob sich von der Holzbank, reckte sich, als habe er alle Muskeln verkrampft, und schlug dann die Fäuste gegeneinander. »Kann ich bei dir schlafen?«
    »Immer. Das weißt du doch.«
    »Und gib Nachricht an die anderen. Ich möchte sie heute abend in der Schreinerei sprechen.«
    »Es wird ausgerichtet. Aber ob sie kommen? Sie haben Angst vor Larissa Dawidowna. Keiner ist mehr sicher, was sie denkt …«
    Abukow nickte, sehr nachdenklich sah er aus. Er nahm seine zwei Pakete auf und verließ Mustais Limonadenbrauerei. Mit einem Kopfschütteln sah ihm Mirmuchsin nach. Er begriff nicht, warum Abukow ihm dieses schreckliche, dumme Märchen erzählt hatte.
    Den Genossen Jachjajew traf Abukow im Kommissarbüro an, wo Mikola Victorowitsch über einigen Protokollen brütete, die ihm große Sorgen machten und die er verbrennen sollte, damit sie nicht

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