Ein Kreuz in Sibirien
ihn mit dem breiten Goldgürtel schloß, betrachtete er sich noch im Spiegel. Er sah einen großen, etwas knochigen, aber muskulösen Menschen, nackt unter dem aufklaffenden seidenen Mantel – in dieser Aufmachung von einer erschreckenden Schamlosigkeit und herausfordernder Bereitschaft. Schnell schloß er den Mantel, schnallte den Gürtel um und zog ihn so fest, daß ihm fast die Luft wegblieb. Dann sah er sich wieder im Spiegel an und sagte zu sich selbst: »Wer bist du, Fremder? Du mußt ein Fremder sein! Du bist nicht mehr ich! Nein, das bist du nicht mehr …«
»Das Essen ist da!« rief Larissas helle Stimme aus dem Wohnraum. »Hast du eben was gesagt, mein Liebling?«
»Nein, nichts, gar nichts!« rief Abukow zurück. »Vielleicht Stimmen von draußen.« Er riß sich von seinem Spiegelbild los, kam in den anderen Raum und blieb überrascht stehen. Ein köstlicher Duft schlug ihm von einer Schüssel auf dem Tisch entgegen. Dahinter stand Larissa mit glänzenden Augen.
»Nina Pawlowna hat es extra für uns gekocht, und Gribow selbst hat es vorhin in einem Thermobehälter herübergebracht. Sieh dir das an: Golubzy … Magst du Golubzy ?«
Abukow nickte. Er kannte Golubzy nicht, aber er sah, was es war: Kohlrouladen in einer Saure-Sahne-Sauce, gefüllt mit Fleisch und Backpflaumen, im Ofen geschmort und überbacken und mit gehacktem Dill bestreut. Dazu dampften in einer anderen Schüssel große, weiße, mehlige Kartoffeln und eine besondere Sauce aus kleingehackten Zwiebeln, gehackten Tomaten, Butter und Pfefferkörnern, alles in eine kochende Sahne gerührt.
»Und im Ofen wartet eine zweite Überraschung«, sagte sie glücklich. »Zum Nachtisch gibt es Babka Jablotschnaja , Ninas Meisterstück. Weißt du, was das ist?«
»Nein. Zu Hause lebten wir von Kohl, Quark und Gurken, Kartoffeln und Zwiebeln. Nur am Sonntag gab es Fleisch, wir mußten uns dafür stundenlang anstellen.«
»Ein Apfelauflauf mit Aprikosensauce ist es«, rief sie und lief um den Tisch herum. Sie fiel Abukow um den Hals und küßte ihn mit einer geradezu tierischen Wildheit. »Und Krimwein habe ich. Roten Krimwein. Auch von Gribow , dem verfluchten Gauner. Er hat einfach alles.«
Sie wand sich aus seinen Armen, lachte und schlug ihm auf die Hand, als er nach ihrer Brust griff, glitt katzenhaft von ihm weg und lief um den Tisch herum.
»Larissa«, sagte Abukow und schluckte mehrmals. »Larissa …«
»Jetzt nicht!« Sie zeigte mit beiden Händen auf den Tisch. »Erst das Festessen. Soll es kalt werden?« Sie setzte sich, zog den Stuhl heran und wartete, bis auch Abukow sich gesetzt hatte. Dann nahm sie den großen Vorlegelöffel und hob eine der wundervollen Kohlrouladen aus der Sahnesoße hinüber auf seinen Teller. »Der Wein steht noch in der Küche. Holst du ihn, Liebling?« Abukow nickte, aber er blieb sitzen. Er wartete, bis Larissa ihm die Kartoffeln und die andere Sauce serviert hatte und legte dann die Hände gefaltet in den Schoß. Die Nacktheit, die er darunter spürte, irritierte ihn maßlos.
»Ich schäme mich«, sagte er plötzlich hart.
Ihr Köpf fuhr empor. In ihren Augen war Fassungslosigkeit und Gegenwehr.
»Vor wem?« fragte sie.
»Wir sitzen hier und schlemmen wie die Zaren, und hundert Meter weiter zerrt in tausend Mägen der Hunger. Das ist wie ein Verrat.«
»Victor, mein Liebling«, stammelte sie entsetzt. »Wie kannst du so etwas denken?«
»Ich gehöre zu ihnen, Larissa. Zu den Verdammten. Ich bin ihr Priester. Und was tue ich? Ich sitze an einem reich gedeckten Tisch, in einem seidenen Mantel, aus dem der Duft eines Parfüms strömt … Meine Kehle ist zu, als würde ich gewürgt.«
»Bekommen sie ein Gramm Brot mehr, wenn du mit ihnen hungerst? Gibt Nina Pawlowna ihnen eine halbe Kelle Kascha mehr, wenn du zu ihnen sagst: Freunde, ich ernähre mich jetzt auch nur von täglich 400 Gramm glitschigem Brot? Wird Gribow dann seine Vorräte verteilen? Was heißt hier Solidarität? Mitleiden und mit ihnen zugrunde gehen? Du hast stärker als alle anderen zu sein, gerade weil du ihr Priester bist. Soll ich die Golubzies und den Babka Jablotschnaja hinüber ins Lager schicken! Vier Mann würden einmal davon satt – was ändert das?!«
Abukow ließ den Kopf auf die Brust sinken, faltete die Hände und betete stumm. Larissa Dawidowna saß ihm steif, hoch aufgerichtet, gegenüber und wartete, bis er den Blick wieder hob.
»Laß es dir gut schmecken, mein Liebling. Ein Tag der Geschenke ist heute. Die Gemeinde
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