Ein Kreuz in Sibirien
Ende!«
»Wir werden den Vorhang – falls wir überhaupt Stoff für einen Vorhang bekommen – zunächst mit der Hand ziehen«, sagte Abukow , »so wie man es seit Jahrhunderten gemacht hat.«
»Und mein Motor?« rief Rakscha sofort beleidigt.
»Den setzen wir woanders ein. Selbstverständlich können wir deinen Motor immer und überall gebrauchen, mein lieber Nikita Borisowitsch .«
Damit war Rakscha zunächst zufrieden, verließ die Bühne, ging an Sakmatow vorbei und spuckte an ihm vorbei auf den Boden.
Der Schmied machte einen Luftsprung, ballte die Fäuste und schrie, Rakscha solle nie mehr in seine Schmiede kommen, dort gebe es für ihn in Zukunft nur fliegende Hämmer!
Da nichts mehr zu tun war, verließ Abukow den Saal und trat hinaus in die helle, warme Nacht. Über dem Lager kreisten die Scheinwerfer. In den Wachttürmen dösten die Wachen hinter den verhängten Maschinengewehren; ein fürchterlich langweiliger Dienst, den man mit Schachspielen aufheiterte – aber wehe, wenn Rassim einen dabei überraschte! Bisher waren unter Rassims Regime nur sechsmal Fluchtversuche unternommen worden, weit weniger als in anderen Lagern – und fast alle waren mißlungen, weil die Suchhunde auch dann jede Spur aufnahmen, wenn der Flüchtige sich in die Sümpfe verkroch oder zur Verwischung der Spur eine Wegstrecke in einem der Flußläufe zurücklegte, bis zu den Schultern im Wasser watend. Und wenn es wirklich mal einem gelungen war, den Hunden zu entkommen, wurde er dennoch nach spätestens drei Wochen ins Lager zurückgebracht, weil der Hunger ihn zwang, die Nähe von Menschen zu suchen. Ein einziges Mal in all den Jahren glückte eine Flucht – und das ausgerechnet drei prominenten Verurteilten, drei Dissidenten, auf die Moskau ein besonders scharfes Auge geworfen hatte: einem Raketenfachmann, einem Völkerrechtler und einem Chemiker. Der letztere war besonders gefährlich; er hatte einer Forschungsgruppe angehört, die sich mit chemischen Kampfstoffen beschäftigte, und sein Wissen um diese allergeheimsten Geheimnisse einer bestialischen Kriegführung hatten in ihm einen solchen Schock ausgelöst, daß er sich eines Tages weigerte, weiter an den Forschungsprojekten der lautlosen Menschenvernichtung mitzuarbeiten. Man hatte ihn zunächst in eine Irrenanstalt gesteckt – der übliche Weg bei prominenten Gegnern –, ihn dort mit Elektroschocks und anderen Mitteln behandelt, dann aber eingesehen, daß man auf diese Weise nicht weiterkam. Eines Tages tauchte er in einem Transport von 247 Sträflingen im Lager JaZ 451/1 auf mit einer Laufkarte, auf der ›Strenge Verwahrung und Sonderbehandlung‹ stand. Das war das Ärgste, was einem hier passieren konnte: als besonders gefährlicher Verbrecher gegen den Staat eingeliefert zu werden. Rassim nahm ihn sich auch sofort vor, beleidigte ihn mit Worten, ohrfeigte ihn dann, gab ihm Tritte in den Hintern und setzte ihn überall dort ein, wo auch der Teufel höchstpersönlich die Arbeit zugeteilt hätte; im Winter zum Beispiel mit der Spitzhacke an der Trasse, wenn die Bagger trotz ihrer Stahlzähne den Dauerfrostboden nicht mehr aufbrechen konnten und einfach abrutschten – da mußten die Menschen ran und sich in die vereiste Erde wühlen.
Jedenfalls wurde, wie gesagt, ausgerechnet dieser Geheimnisträger nach seiner Flucht nicht gefunden. Von der Verwaltung in Tjumen kam ein böser Anruf, der Rassim das Herz bluten ließ. Dann folgte die Aufforderung aus Perm, einen genauen Bericht zu schicken. Und endlich meldete sich auch Moskau und verlangte Auskunft, wieso man aus einem Lager wie JaZ 451/1 überhaupt flüchten könnte. Seitdem benahm sich Rassim so, als seien jede Nacht Fluchtversuche zu erwarten. Dabei war es heller Tag gewesen, als sich die drei erfolgreichen Flüchtlinge auf den Weg in die Freiheit gemacht hatten. Der gefährliche Chemiker tauchte später in der Türkei wieder auf, wurde sofort vom amerikanischen CIA geschnappt und nach Washington gebracht. Dort erzählte er so ungeheure Dinge über den Stand der sowjetischen B- und C-Waffen, daß man ihn auf Nimmerwiedersehen untertauchen ließ; vermutlich arbeitet er jetzt irgendwo unter anderem Namen im Dienste der Amerikaner. Für Rassim war es eine Tragödie, denn er konnte sich leicht ausmalen, daß in Moskau nun hinter seinem Namen eine Bemerkung in den Akten stand.
Abukow blieb in der hellen Nacht stehen, sah hinüber zum Hospital und auf die erleuchteten Fenster von Larissas Wohnung. Ihm war es, als
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