Ein Kreuz in Sibirien
»Daran habe ich gedacht«, sagte er. »Und vorgesorgt. Wenn Sie Fomin herausholen, wird gegen Sie eine förmliche Anklage nach Moskau gehen wegen Gefangenenbegünstigung, Strafvereitelung und Beihilfe zum staatsschädigenden Verhalten.« Jachjajew wackelte mit dem Kopf. »Sie ahnen sicherlich, Genossin, was dann auf Sie zukommt! Humanität mag gut sein – aber ist sie das wert?!«
»Um ein Menschenleben geht es, Mikola Victorowitsch !«
»Um ein unwürdiges Leben, vom Standpunkt der Staatsgewalt aus. Und die Staatsgewalt vertrete in diesem Fall ich. So ist das nun mal … Meine verehrte Larissa Dawidowna , was Sie tun können, um die Sache zum Abschluß zu bringen, ist ein Gespräch mit Fomin . Versuchen Sie, sein Gedächtnis wieder in Gang zu bringen. Ist das zuviel verlangt? Oder können Sie als aufrechte Sowjetbürgerin dulden, daß große Mengen Lebensmittel verschoben und Kriminellen und Volksverrätern zugespielt werden?«
Darauf eine Antwort zu geben war gefährlich. Die Tschakowskaja verließ Jachjajews Zimmer, warf die Tür hinter sich zu und wußte genau, daß der widerliche Dicke jetzt zum Fenster sauste und ihr nachsah. Ging sie zum ›Kasten‹, oder schwenkte sie vernünftigerweise zum Hospital ab?
Larissa ging zum Hospital, wo Polewoi auf sie wartete. In ihren Augen las er alles und brauchte nicht mehr zu fragen.
»Sie holen Fjodor und Aaron Petrowitsch «, sagte er bedrückt.
»Wie geht es ihnen?«
»Der General wird es kaum überleben. Er spuckt Blut.«
»Und Lubnowitz ?«
» Arikin meint, er habe einige Rippen gebrochen. Wir werden gleich sehen.«
Im Lager stellten sich die Arbeitsbrigaden auf, vor dem Tor waren die Lastwagen aufgefahren. Stumpfsinnig blickten die Männer auf die beiden Tragen, die an ihnen vorbeigeschleppt wurden und auf denen die mißhandelten Mitgefangenen lagen. Auch die anderen Insassen der Baracke III waren mehr oder minder verletzt von Schlägen, hatten Hemdenfetzen oder Papierstreifen um ihre Wunden gewickelt und starrten verbissen in das Morgengrauen. Selbst Schimanskow war nicht verschont geblieben, das wäre aufgefallen – er stand mit einem dick geschwollenen Auge und mit umwickeltem Kopf in der zweiten Reihe und ließ den Morgenappell mit dem gleichen Stumpfsinn über sich ergehen wie die anderen. Aus den Lautsprechern an den Wachttürmen dröhnte wieder Marschmusik wie jeden Morgen. Damit man fröhlich und beschwingt zur Arbeit gehe, wie Rassim höhnisch gesagt hatte.
Im ›Kasten‹ hockte Fomin mit angezogenen Beinen auf der Erde und schlief. In einer Stunde spätestens schlug die Sonne auf sein Blechdach ein, dann stand er wie in einem Backofen; dann würde die Luft zu dick, um sie einatmen zu können. Einen Topf mit Wasser würde man ihm hineinreichen – das einzige, was er den ganzen Tag über bekam.
Mustai stand am Fenster seines Zimmers und überlegte angestrengt, was zu tun sei. Zunächst wollte er Abukow in Surgut anrufen, aber wie konnte Victor Juwanowitsch hier noch helfen?
Dann überlegte er, wer als Verräter in Frage käme. Jeden kannte er ja im Block III und wußte seine Lebensgeschichte. Schwer, verteufelt schwer war es, einem den Verdacht anzuhängen, nur weil er ein Eulengesicht hatte oder einen finsteren Blick. Seien wir wachsam, dachte Mirmuchsin , beobachten wir aus der Stille heraus jeden von der Baracke. Man sage nicht, es könnte keiner aus der christlichen Gemeinde sein – an Gott glauben hebt nicht den Trieb auf, sein Leben zu retten, und sei es durch ein heimlich geflüstertes Wort. Nicht jeder, der sich Christ nennt, handelt wahrhaft christlich. Geklärt war nur eines: Der Verräter war zu Jachjajew gegangen, nicht zu Rassim . Man mußte also Jachjajew gut im Auge behalten, um an die Wahrheit heranzukommen.
Als die Arbeitsbrigaden abgefahren waren, zog sich Mustai an, füllte eine Flasche mit Himbeerlimonade und ging hinüber zur Telefonzentrale. Dort saß an diesem Morgen der Gefreite Pikalow und hatte sich zum Frühstück eine Gurke aufgeschnitten.
»Ein heißer Tag wird's, Iwan Iwanowitsch«, sagte Mustai und stellte die Flasche neben das Telefon. »Wohl bekomme dir ein Schlückchen Limonade. Kann man nach Surgut telefonieren?« Pikalow nickte, die Limonade kam ihm gerade recht. So erfuhr in Surgut der Lagerverwalter Smerdow , was im JaZ 451/1 vorgefallen war und daß Rassim und Jachjajew in einem Gespräch mit verschiedenen Beteiligten auch den Namen Abukow genannt hatten, weil er die Transportlisten gegenzeichnet. Es
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