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Ein Kreuz in Sibirien

Ein Kreuz in Sibirien

Titel: Ein Kreuz in Sibirien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Sommer zieht alles hinaus an die Ob-Ufer. Man liegt zwischen den großen weißschillernden Kieselsteinen oder an den flachen groben Sandstränden. Und die jungen Menschen schwimmen hinüber zu den vielen Inseln im Strom, bauen Zelte auf und kochen über Lagerfeuern in großen Kesseln ihr Essen. Gummiboote hüpfen über die Wellen, Ruderkähne kämpfen gegen die Strömung an. Die Herren Genossen von der Erdgas-Bauleitung haben sogar Motorboote zu Wasser gelassen, mit denen sie über den großen Fluß flitzen. Ein herrlicher Tag ist so ein Sommersonntag. Wen wundert es, daß man da nicht in den Straßen der Stadt bleibt, sondern hinauszieht an die Ufer? Nur am Vormittag spielt auf dem ›Oktoberplatz‹ die Blaskapelle eines Regiments der Roten Armee, das in den Kasernen liegt. Flotte Weisen spielen sie. Von 11 bis 12 Uhr. Volksmusik, Märsche und auch Operettenmelodien. Nicht viel anders ist das als bei den Platzkonzerten im Westen. Dann stehen die Genossen um den Platz herum, für sie ist es ein Frühschoppen-Ersatz. Sie diskutieren und schimpfen den sieben Tage lang aufgestauten Groll aus sich heraus, klatschen nach jeder Musiknummer und sind sich am Ende einig: Es ist ein schönes Leben in Sibirien. Und mag man jenseits des Urals auch die Köpfe schütteln, so denken sie hier doch: Kommt her, ihr Lieben, lebt mit uns zur Probe – ihr werdet nie wieder wegwollen aus der Taiga.
    Abukow wanderte wieder ziellos durch Surgut, setzte sich im Volkspark auf eine weiße Bank, ließ im Schatten einer großen Ulme sein Leben an sich vorbeiziehen: Die kurze Zeit im Elternhaus mit dem unbeugsamen Vater, der bis zu seinem Tode glaubte, in die von den Russen gestohlene Heimat an der Ostsee zurückkehren zu können, und seine ganze Familie deshalb zwang, auch in Deutschland innerhalb des eigenen Hauses nur Russisch zu sprechen. Die Jahre im Klosterinternat, das Studium der Theologie, die Weihen als Priester. Der Umzug nach Rom, das orthodoxe Priesterexamen. Die Freistellung von seinem Orden für die Arbeit an der geheimnisvollen Ostabteilung, die im Vatikan offiziell gar nicht existierte. Die Informationsfahrten nach Leningrad und Moskau, nach Stalingrad und an das Schwarze Meer, die er wie jeder westliche Tourist innerhalb einer Gruppenreise absolvierte und auf denen er testete, wie vollkommen seine russische Sprache war … das alles waren Stationen eines Lebens, das – so ahnte er jetzt – systematisch dazu aufgebaut worden war, um es hier in Sibirien zu beenden.
    Abukow streckte die Beine von sich, lehnte den Kopf weit nach hinten und schloß die Augen. Ein heißer Tag war es, über dem Asphalt flimmerte die Luft, es roch nach Teer und erdigem Staub. Als sich jemand neben ihm auf die Bank setzte, veränderte er seine Haltung zunächst nicht, er wollte nicht gestört werden. Erst als sich der neue Nachbar räusperte und geräuschvoll die Nase putzte, schob sich Abukow wieder in eine normale Sitzposition. Der Mensch neben ihm trug eine helle Hose und ein kurzärmliges hellblaues Hemd, hatte struppige rote Haare und eine fürchterliche Knollennase, derentwegen man ihm eigentlich mitfühlend die Hand hätte drücken müssen.
    »Verzeihung, Genosse«, sagte die Nase. »Mein Sommerschnupfen! Kommt immer, mit der Regelmäßigkeit der Stare , wenn die Schlammzeit vorbei ist und die Sonne herunterbrütet. Nichts hilft dagegen. Habe alles versucht vom Inhalieren bis zur modernen Akupunktur, vom Einpinseln der Schleimhäute mit hundert bestialischen Tropfen bis zu langwierigen Allergietests. Meinen Rücken sollten Sie mal sehen, überall kleine Narben in der Haut von den Impfungen. Was hat's genützt? Soviel wie Blasen gegen den Wind! Ich bitte also um Verzeihung, Genosse, daß ich Sie geweckt habe …«
    Der Mensch mit der Knollennase schneuzte sich wieder in sein großes Taschentuch, hüstelte und röchelte, wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln und musterte darauf Abukow eindringlich.
    »Sind Sie auch krank, Genosse?« fragte er plötzlich. Abukow zuckte etwas zusammen.
    »Nein. Keineswegs. Wieso? Sehe ich krank aus?«
    »Jedenfalls sehen Sie nicht aus wie einer, der einen zehnjährigen Birkenstamm mit seinen Händen abdrehen kann.« Er zeigte seine Hände, und das waren tellergroße Schaufeln mit Fingern, die wie prall gestopfte Würste aussahen. »Damit«, sagte er stolz, »habe ich früher einen Ochsen vor den Schädel geschlagen und, bumm !, fiel er um, verdrehte die Augen und entschwebte in seinen Rinderhimmel. Ha,

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