Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Kreuz in Sibirien

Ein Kreuz in Sibirien

Titel: Ein Kreuz in Sibirien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
Vom Netzwerk:
sei deshalb notwendig, Abukow auf schnellstem Wege zu informieren.
    Fünf Tage lang stand Nowo Wostokiny nicht auf dem Transportprogramm der Verpflegungszentrale Surgut. Abukow kam also nicht in das Lager 451/1, um die Dinge an Ort und Stelle beeinflussen zu können. Zum zweitenmal hatten seine Lebensmittellieferungen Not und Elend ausgelöst; wurden die Menschen, denen er helfen wollte, gepeinigt und gefoltert. Das war eine erdrückende, fast nicht mehr tragbare Last, die Abukow mit sich herumtrug und für die er Erleichterung im Gebet suchte. Er schloß dann die Tür seines Zimmerchens und zog sein zusammenklappbares Eßbesteck aus Aluminium auseinander. Dann wurde es nämlich ein Kreuz: Das Messer war der Längsbalken, Gabel und Löffel ergaben den Querbalken. Das andere kleine zusammenklappbare Holzkreuz, das er versteckt im linken Stiefelabsatz aus Rom mitgebracht hatte, gehörte jetzt Larissa. Er hatte es ihr geschenkt, und sie hatte geweint vor Glück. Vor dem aufgestellten Eßbesteck saß er nun mit geschlossenen Augen und fragte inbrünstig, ob denn alles falsch sei, was er tue. Und ob er der richtige Mann sei, dem Kreuz in Sibirien zu dienen. Schreckliche Stunden waren das, denn er fand keine Antworten auf seine Fragen.
    Im Lager JaZ 451/1 anzurufen, damit er nähere Einzelheiten erfahren könne, das wagte er nicht. Und Mustai meldete sich kein zweites Mal – sein Schweigen war ein böses Zeichen. Schließlich hielt es Abukow nicht mehr aus und versuchte am Sonntag, Morosow in der Barackenstadt an der Trasse zu erreichen.
    Am Telefon meldete sich Novella Dimitrowna , das modische Püppchen, und stieß einen Juchzer der Freude aus, als sie Abukow s Stimme hörte.
    »Sie sind es wirklich, Victor Juwanowitsch ?« rief sie entzückt. »Nein, welche Überraschung. Jeder glaubte hier schon, Sie seien versetzt worden. Wladimir Alexejewitsch sagte: ›Da hat man einen guten Menschen kennengelernt, und was geschieht mit ihm? Weg ist er.‹ Und nun rufen Sie an! Wo sind Sie?«
    »In Surgut.«
    »So nah und doch so fern! Warum kommen Sie nicht mehr zu uns? Haben Sie mich schon vergessen?«
    »Heute ist Sonntag«, sagte Abukow , einem plötzlichen Einfall nachgebend, »und da müssen Sie arbeiten?«
    »Ich sitze nur herum, Victor Juwanowitsch . Zu tun ist nichts. Aber hier bin ich sicher.«
    »Sicher? Das klingt, als ob jemand Sie verfolgt?«
    Die zarte, süße Tichonowa zögerte etwas, aber dann sagte sie voller Vertrauen: »So ist es. Jachjajew , dieser Glotzfisch , stellt mir nach. Kommt mit Pralinen und einem schrecklich bunten Sommerkleid und will mich zu allem einladen: zum Kino, zum Theater in Tjumen, zu einem Konzert der Armee, zum Tanz … er belauert mich wie ein Fuchs die Gans. Der Magen dreht sich mir herum, wenn ich ihn sehe.«
    »Wo ist ihr Chef Morosow jetzt?« fragte Abukow scheinbar leichthin.
    »Einen Kollegen im Abschnitt XI besucht er. Dort hat man eine ganz neue Brückenpfeilerkonstruktion ausprobiert, die Morosow mit entwickelt hat.«
    »Kommen Sie nach Surgut«, sagte Abukow . »Irgend jemand wird Sie bestimmt mitnehmen. Ich warte auf Sie vor dem Bahnhof.«
    »Sie wollen mich sehen?« Abukow hörte aus ihrer Stimme die Atemlosigkeit heraus, die sie plötzlich befallen hatte. »Ich soll zu Ihnen kommen? O Victor Juwanowitsch , der Tag wird noch heller.«
    »Ich schlage vor, daß wir in ein Kino gehen. Und dann essen wir gut zu Abend im Restaurant ›Am schönen Ob‹, und …«
    »… und was dann?« fragte sie erwartungsvoll.
    »Ich werde ab 19 Uhr am Bahnhof warten. Ob Sie mich noch wiedererkennen, Novella Dimitrowna ?«
    »Aus dem Gedächtnis könnte ich Sie malen, wenn ich Talent dazu hätte. Ich werde sofort herumfragen, wer noch nach Surgut fährt. O Victor Juwanowitsch , wie freue ich mich!«
    Abukow ging in sein Zimmer zurück, nahm Papier und Tintenstift und schrieb einen Brief an Morosow . Das Kuvert verschloß er gründlich mit einem Klebestreifen, legte sich dann auf sein Bett und betrachtete die Kartons mit den Musikinstrumenten, den Noten, Textbüchern und Stoffballen. Was geschieht jetzt im Lager? fragte er sich mit heißem Herzen. Jetzt, in diesem Augenblick? Wie haben Rassim und Jachjajew gewütet? Warum, o Gott im Himmel, ruft Mustai nicht mehr an?
    Die langen Stunden bis zum Abend waren bedrückend. Diese qualvollen, langen, zäh dahintropfenden Stunden, mit denen man nichts anzufangen wußte. Zumal heute nicht, an einem Sonntag, der in Surgut immer besonders still ist. Denn im

Weitere Kostenlose Bücher