Ein Kreuz in Sibirien
Wladimir Alexejewitsch ?«
»Ja! Vergessen Sie es.« Morosow winkte ab. »Wo der Brief geblieben ist, wird sie bestimmt nicht mehr wissen. Dafür hat sie etwas anderes – für Sie, Abukow . Es gelang ihr, dem Unhold ein Stück aus dem Hemd zu reißen, in der Faust zu behalten und dann zu verstecken. Ich habe es geholt. Hier ist der Fetzen.« Morosow holte seinen Brustbeutel aus dem Hemd und übergab Abukow den Stoff. »Ein Stück weißer Baumwolle. Ein gutes, teures Hemd in dieser Qualität. Nicht jeder kann so etwas tragen. Das ist der einzige konkrete Hinweis auf den Täter.«
Morosow wartete ein paar Augenblicke, in denen Abukow mit finsteren Blicken den Fetzen musterte und zwischen den Fingern drehte, und fragte dann: »Nun also – was stand in Ihrem Brief an mich. Kann er mir gefährlich werden, wenn er in andere Hände fällt?«
»Ich habe Sie in dem Brief gebeten, mir mitzuteilen, was im Lager 451/1 geschehen ist und wie es jetzt dort aussieht.«
»Sie meinen die Lebensmittelaffäre?«
»Ja.«
» Fomin ist nach drei Tagen aus dem ›Kasten‹ getragen worden und liegt jetzt im Hospital. Er hat geschwiegen und wäre lieber gestorben, aber so weit wollte Jachjajew nicht gehen. Der General ist gerade noch in der Lage, die Baracke zu fegen, und Lubnowitz hat sich etwas erholt. Man hat ihm zwei Rippen eingeschlagen. Die anderen aus dem Block III arbeiten wieder an der Trasse. Ich weiß das alles auch nur von Mustai , der uns mit Limonade beliefert hat. Aus dem Lager dringt nichts …« Morosow musterte Abukow wieder nachdenklich. »Das ist doch alles keine Laus für Ihren Pelz, Abukow .«
»Auch mein Name fiel, Wladimir Alexejewitsch .«
»Lächerlich! Wenn jemand ein treuer Staatsbürger ist, dann Sie. Und nur darum haben Sie mir geschrieben? Welche Tragik – daran wäre Novellas Leben fast zerbrochen. Ohne es zu wollen, haben Sie da eine große Schuld auf sich geladen. Wissen Sie das? Ist Ihnen das klar?«
Abukow schwieg, sah Morosow lange an und zögerte noch immer. Dann endlich fragte er betont:
»Vertrauen Sie mir, Wladimir Alexejewitsch ?«
»Bisher kenne ich Sie nur als ehrlichen Menschen«, antwortete Morosow ausweichend.
»Seien wir zueinander wirklich ehrlich: Warum riefen Sie vorhin Gott an?«
»Eine dumme Gewohnheit! Hat nichts zu bedeuten. Ich hätte auch sagen können: Da war der Teufel gnädig …«
»Aber Sie sprachen von der Gnade Gottes. Wladimir Alexejewitsch , ich wage es, ich gebe mich in Ihre Hand: Ich bin ein Christ. Ein gläubiger Christ.«
Morosow schwieg. Er legte nur die Hände übereinander und blickte Abukow mit größter Vorsicht an.
»Was wollen Sie hören, Abukow ?« fragte er endlich.
»Ihr Vertrauen will ich.«
»Wagnis gegen Wagnis: Auch ich bin Christ. Sogar ein katholischer, und das ist hier eine kleine Seltenheit.« Morosow lächelte schwach. »Nun wissen wir es voneinander. Was ändert das?«
»Wir wissen noch nicht alles.« Abukow ging zu seinem Nachttisch, holte das Reise-Eßbesteck heraus und klappte es so auf, daß es ein Kreuz bildete. Dann stellte er es vor Morosow auf den Tisch. Morosow starrte Abukow fassungslos an.
»Das … das ist eine gute Idee …«, sagte er mit plötzlich heiserer Stimme.
»Das ist meine Aufgabe, Wladimir Alexejewitsch . Ich soll euch das Kreuz nach Sibirien bringen. Ein Priester bin ich.«
»O mein Gott!« Morosow war wie gelähmt. »Sie sind … Abukow … Sie sind wirklich? Sie sind kein strammer Genosse? Abukow – ein Priester!« Er wischte sich über die Augen mit bebenden Händen und seufzte. »Das muß man erst verkraften. Sie sind in der Maske des Genossen Abukow … O Himmel, wenn das jemals Jachjajew erfährt oder gar Rassim !« Er faltete die Hände, blickte auf das Kreuz aus dem zusammenklappbaren Eßbesteck. »Nun sind wir Brüder«, sagte er langsam. »Sie sind mein Pfarrer – daran muß ich mich erst gewöhnen. Wie soll ich Sie jetzt anreden?«
»Als Freund, Victor Juwanowitsch .«
Morosow stand auf, sie umarmten sich, küßten sich auf die Wangen und wußten, daß eine Freundschaft begonnen hatte, die nur der Tod auflösen konnte.
Abukow klappte sein Kreuz zusammen und legte das Eßbesteck zurück in die Nachttischschublade. Morosow wartete, bis er sich gewaschen hatte, rasiert und angezogen war.
Den Hemdenstoffetzen steckte Abukow in sein Portemonnaie. Morosow sah es mit Unbehagen.
»Ist es da sicher?« fragte er.
»An meine Geldbörse geht keiner heran. Warum auch? Was kann ein Lastwagenfahrer
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