Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Kreuz in Sibirien

Ein Kreuz in Sibirien

Titel: Ein Kreuz in Sibirien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
Vom Netzwerk:
lehnte sich weit in den Sitz zurück und starrte aus leeren Augen in die an ihr vorbeifliegende Gegend. Bäume, Bäume, Bäume, dazwischen Sumpfflecken, schillernde Seen, Bäche und kleine Flußläufe. Einsame Unendlichkeit. Verhaßte, geliebte Taiga. Verfluchtes, herrliches Sibirien.
    Ich werde mit Victor Juwanowitsch wegziehen, dachte sie. Hinter den Ural, ins europäische Rußland. Überall gibt es Arbeit für einen Lastwagenfahrer und eine Sekretärin. Wir werden schnell die Anträge stellen, nicht wahr, Victor? Rußland ist so groß, es braucht nicht Surgut zu sein. Für den Aufbau arbeiten kann man auch in Leningrad oder auf der Krim. Man braucht uns überall … Diese vielen Gedanken beruhigten sie etwas. Still saß sie im Wagen und formulierte im Kopf das Schreiben, das sie an die Hauptverwaltung in Tjumen schicken wollte: »V.J. Abukow und ich, N.D. Tichonowa , haben die Absicht, zu heiraten. Wir bitten die verehrten Genossen, zu prüfen, ob nicht die Möglichkeit besteht …«
    Das muß ein Ende haben, dachte in den gleichen Minuten der wortlos am Steuer sitzende Morosow . Ein schnelles Ende. Wie ein Chirurg muß man ihr ins Herz schneiden und Abukow heraustrennen. Es gibt keine andere Möglichkeit, um sie von ihm zu befreien. Ein Schnitt, ein Aufschrei, ein Zusammenbruch – aber dann Ruhe und ein neues Leben. Nur so geht es noch. Mit dem heutigen Tag muß man beginnen: Sieh, er ist nicht gekommen, um Abschied von dir zu nehmen, um dich zu begleiten, wie er versprochen hat. Er wird nie zu dir kommen, Novella , mein Kleines … Da ist Larissa Dawidowna … ja, die Gerüchte sind keine Gerüchte, sondern die Wahrheit, glaub es mir, ich weiß es von ihm selbst. Die Tschakowskaja und ihn reißt niemand mehr auseinander … Ja, und nun schrei, kleine Novella , schrei deine Qual aus dir heraus, befreie dich von allem, was gewesen ist. Hat er dir jemals gesagt, daß er dich liebt? Die Illusion hast du dir aufgebaut, nicht er. Du hast einen Stern geliebt, aber er ist nur ein gewöhnlicher Stein … Vergiß Victor Juwanowitsch ! Vergiß ihn! So machen wir es, dachte Morosow , leidlich zufrieden mit sich. Du wirst dich nicht beschweren können, Priester Abukow , über meine Hilfe. Aber es wird schwer für dich werden, als satter Hirte unter hungernden Schafen zu leben. An deiner Stelle möchte ich nicht sein.
    Nach vier Stunden Fahrt erreichten sie den vorderen Trassenabschnitt, der zu Morosow s Gebiet gehörte. Riesige Bagger gruben das Rohrbett aus. In zwei weiten, offenen Hallen aus Holz standen in langen Reihen weibliche Häftlinge und umwickelten die Gasrohre mit Asbestmatten. Sie arbeiteten ohne Handschuhe und Mundschutz. Nur zweimal im Jahr erfolgte die Zuteilung neuer Arbeitshandschuhe – aber welcher Schutz reicht bei dieser Arbeit ein halbes Jahr?
    Unbeteiligt und unberührt blickte Novella Dimitrowna auf die ausgemergelten, knochigen Frauen in ihren zerlumpten Kleidern. Sie gehörten zu ihrem Leben wie ihre Schreibmaschine und ihr Bleistift. Bestandteil ihres Arbeitsplatzes waren sie. Material.
    »Am Abend rufen wir Victor Juwanowitsch an«, sagte sie. »Ich muß seine Stimme hören. Ohne seine Stimme werde ich nicht schlafen können.«
    Morosow nickte stumm und wünschte sich, daß der Tag schon zu Ende wäre.
    Am Dienstag landete Mustai Jemilianowitsch mit einem Materialhubschrauber in Surgut. Abukow, der von Morosow die Landezeit erfahren hatte, holte ihn ab. Er hatte Bataschew natürlich nicht gesagt, wie Mustai nach Surgut kommen würde, aber das war auch nicht das Wichtigste. Bataschew hatte tatsächlich seinen alten ledernen Sandsack aus seiner großen Boxerzeit wieder an einen Balken gehängt und drosch seit zwei Tagen auf ihn ein mit einer Verbissenheit, als bereite er sich auf einen Meisterschaftskampf vor.
    Um in die nötige Stimmung zu kommen, hatte er den Sandsack mit roten Haaren bemalt, und als Abukow ihn besuchte, schrie Bataschew , schweißüberströmt und mit prallen Muskeln: »Die rote Sau verarbeite ich zu Mus – man kann sie sich hinterher aufs Brot schmieren! Sieh dir das an, Brüderchen!«
    Er gab dem Sandsack einen Hieb, der ihn weit zurückpendeln ließ. Abukow versuchte es auch, legte seine ganze Kraft in den Schlag, aber der Sandsack zitterte nur ein wenig auf der Stelle. »Das ist ein Spezialsack!« keuchte Bataschew und trommelte wieder auf ihm herum. »Fast doppelt so schwer wie ein normaler Trainingssack. Dreimal habe ich erlebt, wie sich an ihm meine Trainingspartner das

Weitere Kostenlose Bücher