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Ein Kreuz in Sibirien

Ein Kreuz in Sibirien

Titel: Ein Kreuz in Sibirien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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sie und fiel Abukow um den Hals, küßte ihn, als seien diese Küsse eine geheimnisvolle kräftigende Medizin, und hängte sich dann an seinen Hals mit aufklaffendem Mantel, unter dem sie nur ein hauchdünnes Hemdchen trug. Die Striemen und Bißwunden der Mißhandlung waren noch deutlich zu sehen; es mußte einige Zeit vergehen, ehe sie völlig verheilt waren. »Ist das nicht wunderbar, Victorenka ?«
    »Erstaunlich schnell hast du dich erholt, gratuliere!« Er löste ihre Arme von seinem Hals und trat einen Schritt zurück. »Wer holt dich ab?«
    »Wladimir Alexejewitsch … Du kommst doch mit?«
    »Morgen bin ich auf dem Bauabschnitt VII.«
    »Nein! Morgen bist du krank! Und übermorgen auch. Ich will, daß du krank bist und mit mir fährst.« Sie kam zu ihm, als er sich setzte, und schwang sich auf seinen Schoß. »Ein Mensch kann nicht immer gesund sein – das muß auch Smerdow einsehen.«
    »Kein anderer vermag meinen Kühlwagen zu fahren«, sagte Abukow ausweichend.
    »Und wenn du einmal wirklich krank wirst?«
    »Dann gäbe es große Schwierigkeiten.«
    »Dann laß Smerdow damit fertig werden.«
    »Versuchen werde ich es«, sagte Abukow , um sie zu beruhigen und Zeit zu gewinnen. »Vielleicht gibt er mir frei.«
    Er blieb eine halbe Stunde bei Novella Dimitrowna , ging dann langsam durch die Nacht zurück zu seinem Quartier. Surgut war um diese Zeit eine stille, eine fast tote Stadt – wer hat schon Lust, um Mitternacht durch die langweiligen, gleichförmigen, auf dem Reißbrett entstandenen Straßen der Neustadt zu gehen? Nicht ein Lokal war mehr offen, die Nacht gehörte voll den Katzen und Hunden, die durch die Finsternis huschten.
    Ab und zu blieb Abukow stehen, dachte an Mustai und die Knollennase Bataschew , an Novella und Larissa Dawidowna , an Rassim und Jachjajew , an Morosow und an Novellas geheimnisvollen Peiniger, an seine Gemeinde im Lager 451/1 und im Frauenlager von Tetu-Marmontoyai und an Monsignore Giovanni Battista, der damals, zum Abschied, zu ihm gesagt hatte: »Mein Sohn, bereiten Sie sich darauf vor, ein Leben außerhalb jedes Lebens zu führen. Für das, was Sie erwartet, gibt es keinen Namen, kein Wort. Nur einem sind Sie für alles verantwortlich: Unserem Herrn. Sonst keinem, Gott segne Sie, Pater Stephanus.«
    Damals … wie unendlich lange war das her. Nur ein paar Wochen, zeitlich gesehen, und doch so weit entfernt wie Himmelsstraßen. Gab es Rom noch? Wenn man ihn jetzt fragen würde, wo seine Heimat sei, mußte er die Antwort nicht lange überlegen. Sibirien, würde er sagen. Hier, Surgut! Die Ufer des Ob. Die Taiga im Norden. Habe nichts anderes mehr im Herzen, Genossen. Das ist Mütterchen Erde für mich …
    In der warmen Nacht wanderte er noch lange durch die leeren Straßen, sah dann mit Staunen, daß schon der Morgen dämmerte und der Himmel sich einfärbte in violette Streifen. Er beeilte sich, in sein Zimmer zu kommen, sich zu waschen und für die neue Fahrt umzuziehen. Als erster stand er im Depot neben seinem Kühlwagen Nummer 11.
    Vier Stunden lang weigerte sich Novella Dimitrowna an diesem Tag, Morosow s Wagen zu besteigen und mit ihm zurück zur Trasse zu fahren.
    » Abukow kommt!« rief sie immer wieder. »Versprochen hat er es mir. Krank wird er sein. Braucht vielleicht ein ärztliches Attest und muß sich anstellen. Warten wir doch noch ein wenig, Wladimir Alexejewitsch . Bitte, warten wir! Ich weiß, daß er kommt. Er läßt mich nicht allein …«
    Gegen Mittag rief Morosow endlich bei Smerdow an, weil Novella nicht zu bewegen war, das Krankenhaus zu verlassen, und berichtete ihr dann, was er über Abukow gehört hatte: »Victor Juwanowitsch ist heute früh zum Bauabschnitt VII gefahren. Kein Ersatz war da, er mußte es übernehmen. Es war nichts mehr zu ändern.«
    Novella Dimitrowna weinte wie ein kleines, gestürztes Kind, stieg dann doch in Morosow s Wagen und ließ sich wegbringen. Der Stationsarzt gab ihr noch ein Fläschchen mit Beruhigungstropfen mit – aber außerhalb der Stadt, auf der Straße nach Norden, warf sie es aus dem Fenster.
    »Ich brauche keine Tropfen!« rief sie. »Ich brauche Victor Juwanowitsch ! Nur mit ihm werde ich gesund. Nur mit ihm!«
    An der Straßenstelle, wo der Überfall geschehen und Tscheljabin getötet worden war – man mußte daran vorbei, es gab keinen anderen Weg nach Norden als diese Straße –, zog sie ihren Pullover über das Gesicht, um nichts zu sehen. Erst Minuten später machte sie ihr Gesicht wieder frei,

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