Ein Kreuz in Sibirien
beenden.«
»Dafür wird die Atombombe sorgen«, sagte Morosow sarkastisch. Er war inzwischen mit Abukow wieder bei den Häusern angekommen. Beide tranken sie in Morosow s Wohnung noch eine Flasche Wein und aßen etwas kaltes Fleisch. Dann fuhr Abukow auf dem grünlackierten, uralten Motorrad, das Mustai ihm geliehen hatte, ins Lager zurück.
Spät in der Nacht besuchte ihn Polewoi . »Die Gemeinde wächst«, berichtete er und setzte sich. »Vierzehn Gläubige möchten neu aufgenommen werden. Alles Getaufte. Erst jetzt haben sie erfahren, daß wir eine Kirche haben.« Beruhigend nickte er, als er Abukow s fragenden Blick auffing: »Sie gehören zu den Treuen und Schweigsamen. Lange haben wir sie beobachtet und geprüft, bis wir ihnen unser Vertrauen schenkten. Bei der nächsten Theaterprobe werden sie als Statisten auf der Bühne stehen und sich dir vorstellen.«
»Es ist gut, daß du gekommen bist, Georgi Wadimowitsch «, sagte Abukow . Gerade nach Novellas Tod hatte er lange über sich selbst nachgedacht. »Du bist der einzige, mit dem ich darüber sprechen kann. Ich habe mich entschlossen, meine Arbeit als Lastwagenfahrer aufzugeben.«
»Den Kühlwagen willst du aufgeben?« rief Polewoi geradezu entsetzt.
»Ja.«
»Und was willst du tun? Nur noch Theater spielen?«
»Ich werde versuchen, einen Posten im Lager zu bekommen. Ich will bei euch sein, bei meiner Gemeinde, Tag und Nacht, wie es Pjotr war. Immer nur ein oder zwei Tage, und das im Monat vielleicht zweimal – im Winter sicherlich nur einmal – das ist zuwenig. Euer Priester muß unter euch sein. Ihr braucht ihn.«
»Wir brauchen aber auch deinen Kühlwagen, Väterchen. Fleisch, Fett, Eier, Quark, Marmelade – damit werden wir überleben, nicht von Gottes Wort allein. Überlaß uns die Arbeit an der Basis – wie es so modern heißt –, und sorge für unser Leben. Predige und segne, wenn du hier bist, bete und sprich aber auch mit Gott über uns an jedem Tag, wo du dem Lager fern bist. So, wie du es jetzt machst, ist es wichtiger, als am Lagertor zu stehen und zuzusehen, wie wir verhungern und zugrunde gehen. Pjotr war ein großer Mensch und Priester; er litt mit uns, er hungerte mit uns, er fällte mit uns die Bäume in der Taiga, grub die Sümpfe trocken, baute Brücken und Baracken, isolierte Gasrohre, schleppte Material, hackte mit den anderen den Graben für die Rohre in den Eisboden und starb auch wie einer der grauen Unbekannten. Ein echter Heiliger, sollte man sagen. Er war Trost für viele Armselige, die letzte Hoffnung für die Sterbenden, die Seele, die alles Leid in sich aufnahm – aber im vergangenen Winter sind einhundertneunundvierzig von uns verscharrt worden, sind an Entkräftung gestorben, an von Asbeststaub zerfressenen Lungen, an Krankheiten, die hier keiner heilen konnte, auch Larissa nicht. Und dreiundzwanzig haben es nicht mehr ertragen können und haben sich selbst umgebracht, sind in die Säge gelaufen, haben sich aufgehängt, haben ein Loch in die Eisdecke des Flusses geschlagen und sind hineingesprungen oder haben sich einfach ausgezogen und sich draußen in den Frost gelegt. Schnell geht das, Victor Juwanowitsch , bei 40 Grad Kälte! Kaum ein Schmerz, sagt man; der Frost ist wie ein betäubender Hieb.« Polewoi schüttelte den Kopf. »Laß erst den Winter kommen, Väterchen. Du kennst nur den Sommer, die Myriaden Mücken und die ausdörrende Hitze. Lern den Winter in der Taiga kennen! Dann wirst du sagen: Jedes Gramm Fleisch, jeder Bissen Brot, jedes Kleckschen Marmelade, jede Fingerspitze Quark, jedes Klümpchen Fett, jedes Löffelchen voll Gries oder Mais oder Nudeln sind ein Tag Leben mehr. Und du, unser Priester, bringst uns das alles. Du, unser Priester, verlängerst unser Leben, Tag um Tag, mit deinem Kühlwagen. Wie kann man das aufgeben, Victor Juwanowitsch ? Ist die gute Tat nicht größer als der Gedanke und das Wort?«
»Sind es gute Taten, wenn ich stehle und betrüge, mein Wort breche, heimlich fresse und saufe, was für andere bestimmt war?« brach es voller Qual aus Abukow heraus. »Bin ich nicht ein ganz gemeiner Sünder?«
Polewoi schüttelte den Kopf. »Gott sieht nicht nur, was du tust, sondern er weiß auch, warum du es tust«, sagte er ernst. »Erst in der Seele entscheidet es sich, ob einer sündigt oder ein guter Mensch ist. Du lebst und du opferst dich für uns – welch eine große Tat! Victor Juwanowitsch , keinen Grund gibt es, sich Vorwürfe zu machen. Laß erst den Winter kommen, dann
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