Ein Kreuz in Sibirien
Kraft hernahm, sich so unmenschlich zu rächen.«
Morosow wandte sich ab, ging zur Seite, schlug beide Hände vor sein Gesicht und weinte. Abukow folgte ihm, nachdem er Kabulbekow mit einem kurzen Blick gebeten hatte, bei Larissa zu bleiben.
»Wladimir Alexejewitsch «, sagte er leise und legte den Arm um den schluchzenden Morosow . »Sie haben Novella Dimitrowna geliebt …«
»Ja.« Morosow nickte. »Aber es war ganz allein mein Geheimnis. Sie hat es nie gemerkt. Wie konnte sie zu so etwas fähig sein!«
»Nur Gott kann in die Seele eines Menschen blicken.« Abukow drückte den weinenden Morosow an sich wie ein trostsuchendes Kind. »Ich werde hinüberkommen und sie begraben und für sie beten … und für Jachjajew auch. War er nicht ebenfalls ein Mensch und ein Geschöpf Gottes? Um Gnade werde ich bitten.«
»Ist das ein Trost?« schluchzte Morosow .
»Nein, aber noch schlimmer wäre der Schmerz ohne den Glauben.«
14
Mit allen militärischen Ehren, mit Fahnen und Salutschüssen wurde Jachjajew in einem Heldengrab auf dem Friedhof von Surgut beigesetzt. Die Tichonowa hingegen erhielt nur eine einfache Grabstelle am Rand des Baudorfes. Ein Hügel, der – das konnte man absehen – verwittern und vergehen würde und von dem nichts übrigblieb, wenn die Erdgasleitung erst einmal gebaut war und das Baudorf wieder abgerissen wurde.
Wie in Rußland üblich, wurde der karge Fichtensarg mit Novella offen bis zum Grab getragen. Fast dreihundert Menschen folgten ihm. Für diesen Vormittag ruhte alle Arbeit an der Trasse, und jeder, der abkömmlich war, vom Chefingenieur bis zum einfachsten Rohrschweißer, zog hinter den Trägern hinaus zur Grabstelle. So friedlich, unirdisch schön mit ihrem schmalen, bleichen Gesicht sah Novella aus, als habe der Tod für sie eine erträumte Erlösung dargestellt. In einem ihrer bunten Kleidchen lag sie da, die hellbraunen, kupfern schimmernden Haare gelockt und mit einer roten Rose verziert. Und jeder, der sie anblickte, erschrak ein wenig, denn auf ihren Lippen schien ein Lächeln zu sein, als nehme sie ein stilles, eigenes Glück mit hinüber in die Ewigkeit.
Morosow sah sie noch einmal lange an und ließ dann den Sarg schließen. Als er an Seilen in die Grube glitt, hinein in den Dauerfrostboden, aus dem man mit Preßhämmern das Grab herausgeschlagen hatte, stützte Morosow sich auf Abukow s Schultern und war starr in seinem Schmerz. Erst bei der ersten Schaufel Erde, die hohl auf den Sargdeckel fiel, zuckte er heftig zusammen, als begreife er nun voll die Endgültigkeit der Trennung.
Am Abend gingen Abukow und Morosow noch einmal allein zum Grab. Nun erst konnte Abukow seine Gebete sprechen, die Tote aussegnen und Gott anflehen, trotz allem, was geschehen war, seine Gnade der kleinen Novella nicht zu versagen. Auch Morosow betete, ganz in sich gekehrt, und sagte dann zu Abukow , als sie langsam wieder zum Dorf gingen:
»Es ist gut, daß Sie bei uns sind, Victor Juwanowitsch . Wir brauchen hier wirklich einen Priester – selbst so einen, wie Sie es sind. Nur schwer begreifen konnte ich Sie in den vergangenen Wochen, jetzt erkenne ich Ihr verdammt schweres Amt. Man hört und liest so viel von den jungen progressiven Priestern in Mittel- und Südamerika, die sich einen Teufel um Dogmen und römische Kurienanweisungen kümmern und nur für das hungernde, ausgebeutete Volk da sind – wenn nötig gegen die Regierungen und auch gegen eine staatliche Ordnung. Auch Sie gehören dazu.«
»Nein!« sagte Abukow fest.
»Nicht?« Morosow blieb stehen.
»Ich würde nie mit der Waffe in der Hand an der Spitze einer revolutionären Truppe stehen und für Freiheit und Glauben töten. Nie! Im Gegenteil: Ich predige gegen die Gewalt. Mein Kreuz in Sibirien soll ein Zufluchtsort sein, kein Versammlungspunkt für Umstürzler. Gottes Wort ist die Liebe, nicht die Gewalt.«
»Theorie, Pater! Mit dem Weihrauchkessel verjagen Sie keinen Bolschewismus.«
»Kleingläubig sind Sie, mein lieber Morosow . Sie haben kein Vertrauen. Die Kirche besteht seit fast zweitausend Jahren, jede Ideologie hat sie bisher überlebt. Und das wird sich nicht ändern. Den Samen, den wir ausstreuen … die Stecklinge, die wir setzen … einmal wird daraus ein Wald werden.«
»… den eine andere Ideologie dann wieder abholzt!«
»Menschenwerk ist flüchtig – aber Gottes Auftrag erlischt nie, wird nie vollendet, wird immer gegenwärtig sein. Erst ein Ende der Menschheit könnte diesen Auftrag
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