Ein Kreuz in Sibirien
Grund?«
»Noch steht die Brücke.«
»Noch! Aber sie zittert und schwankt, sehen Sie es nicht? So einen Regen, so eine Flut habe ich noch nie erlebt.«
»Niemand kann Sie für Naturkatastrophen verantwortlich machen.«
»Niemand? Sagen wir mal: In Sibirien ist alles möglich, das hätte man einkalkulieren, berechnen, überwinden müssen. Bei starken Regenfällen wird es immer Wassermassen geben, und wo soll das Wasser denn hin? In den Boden hinein kann es nicht – da ist Dauerfrost, da geht nichts durch, das ist wie ein Eisenpanzer. Es muß an der Oberfläche bleiben und in die Weite auslaufen. Natürlich habe ich das alles berücksichtigt und deshalb über große Strecken hinweg die Erdgasleitung nicht in den Boden verlegt, sondern auf Stützen über den Boden. Auf Stützen, die automatisch gekühlt werden, damit im Sommer und durch die Eigenwärme der Frostboden nicht tiefer schmilzt und die Pfeiler nicht absinken oder wegknicken. Mit 300prozentiger Sicherheit rechnen wir, aber das hier« – er nickte zu den reißenden Wassern – »ist uns tausendfach überlegen. An eine Sintflut habe ich nicht gedacht. Das war mein Fehler, und dafür habe ich zu büßen.« Jetzt sah er Abukow noch an, und Abukow erschrak darüber, wie alt Morosow in diesen wenigen Tagen geworden war. »Ein Mann muß wissen, wenn es zu Ende geht – hat das nicht Hemingway gesagt und auch selbst danach gehandelt?«
»Hemingway wußte von seiner unheilbaren Krankheit, er hatte Krebs.«
»Bei mir ist es genauso«, sagte Morosow bitter, »ich habe die Wassersucht.«
»Die Brücke hält!« Abukow starrte auf die schwankenden Pfeiler. »Sie hält!«
»Nicht Gott hat die Brücke gebaut, sondern ich habe es. Da hilft kein Beten.«
»Es gibt ein Lied nach dem 31. Psalm«, sagte Abukow bedrückt: »Auf dich allein ich baue, du lieber treuer Gott; da ich auf dich vertraue, verlaß mich nicht in Not …«
Morosow nickte schwer. »Ihr Priester habt es leicht. Einen Spruch kramt ihr hervor, und wo es donnert, scheint für euch die Sonne. Victor Juwanowitsch , ich kann Ihnen nicht folgen.«
Bei Einbruch der Dämmerung stürzte die Brücke zusammen. Zuerst wankte ein Pfeiler und riß sich aus der Fundamentverankerung los, drehte sich in einem gewaltigen Strudel des Flusses und kippte dann um. Ihm folgten die Stützen Nummer 4 und 6, nun ihres Spannhaltes beraubt, und kurz darauf die Stützen 1 und 3. Morosow s neues Werk, das richtungweisend für den Erdgas-Leitungsbau sein sollte, versank in den donnernden Fluten.
»Sechs Uhr neunundzwanzig …«, sagte Morosow heiser. »Zweieinhalb Stunden früher als die neunte Stunde.« Er blickte noch einmal auf die wirbelnde Wasserwüste und den Ruinenrest seiner Brücke – drei Pfeiler, die nun sinnlos aus dem Fluß ragten. »Fahren wir zurück, Pater?« Er lächelte schmerzlich, als er Abukow s Zögern spürte. »Sorgen um mich? Sie sehen, ich habe mich nicht hinterhergestürzt.«
»Sie sind mir zu ruhig, Wladimir Alexejewitsch .«
»Soll ich jammern, mir die Haare raufen, mich in den Schlamm werfen und den Fluß verfluchen? Ich warte hier seit drei Tagen – Zeit genug, um mich vorzubereiten auf diese eine Minute des Untergangs. Nun ist es geschehen. Mein Leben hat sich verändert, das weiß ich nun.« Er lächelte wieder voll Bitterkeit. »Fürchten Sie, ich rase gegen einen Baum? Zu unsicher, Pater! Wenn ich sterben will, dann muß es gründlich geschehen. Endgültig. Ohne das Risiko, doch noch gerettet zu werden und zu überleben. Diese Sicherheit kann mir ein Baum nicht bieten. Also, keine Angst vor der Rückfahrt!«
Abukow nickte, klopfte Morosow auf die Schulter, sprang aus dem Wagen und lief durch den Regen zu seinem Raupenfahrzeug. Dort wartete er, bis Morosow angefahren war, und folgte ihm dann in engem Abstand.
Was wird er tun, dachte er voll Sorge. Was würde ich an seiner Stelle tun? Auf die Kommission warten? Auf die Verhaftung? Flüchten, irgendwohin flüchten, hinein in die undurchdringlichen Wälder, zu den Nomaden? Ein menschlicher Wolf werden, nie mehr ohne die Hatz im Nacken, immer auf der Flucht? Untertauchen in der sibirischen Wildnis? Es wäre die einzige Möglichkeit, um dann auf vielen Umwegen eine Grenze zu erreichen. Die iranische oder die chinesische Grenze. Aber ist Morosow ein Mensch, der so etwas durchhält?
In der Ingenieurbaracke saßen noch einige Abteilungsleiter, als Morosow , naß und dreckig, hereinkam. Jassenski brauchte nicht mehr zu fragen, ein Blick auf
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