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Ein Kreuz in Sibirien

Ein Kreuz in Sibirien

Titel: Ein Kreuz in Sibirien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Hospital zu erobern. Du wirst es sehen. Je weiter der Winter fortschreitet, um so mehr verstümmeln sie sich selbst. Er da, den sie jetzt aufschneiden, hat's gestern getan. In der Nacht fing es an. Keiner wußte, was er hatte. Er hat sich gekrümmt vor Schmerzen, Blut hat er gespuckt, geschrien wie ein Pferd. Dshuban hat ihn geröntgt, und da wußten wir es: Der erste Fall in diesem Jahr. Ein Schlucker.«
    »Ein Schlucker?«
    »Wir haben gelernt, sie einzuteilen: Da sind die Schlucker, die Schneider und die Bohrer.« Polewoi wischte sich über das fahle, zerklüftete Gesicht. » Dshuban hat es im Röntgenbild gesehen und fotografiert: Der ganze Magen voll, die Magenwände aufgerissen …«
    »Womit?« fragte Abukow dumpf. »Was hat er geschluckt?«
    »Glas, Nägel, Nadeln, zerstückeltes Blech von der Eßschüssel und einige Stücke Stacheldraht«, sagte Polewoi . »Und in der Nacht, beim Fiebermessen, hat er auch noch das Thermometer zerkaut und hinuntergeschluckt. Nun wird er operiert. Zwei Wochen Ruhe, ein Bett, ein warmes Zimmer, kein Schuften in Eis und Frost – das ist ein zerrissener Magen wert. Kaum zu glauben, wozu ein Mensch in der Verzweiflung fähig ist …«

15
    Am Abend kehrte Lagerkommandant Rassim zurück in einem Geländewagen, der mit einer Haut aus glitzerndem, gefrorenem Schnee überzogen war. Dick vermummt in einen Wolfspelz, aber trotzdem von der Kälte geschüttelt und mit gerötetem Gesicht, stapfte er schnell in die Kommandantur, schälte sich aus dem Mantel, rieb sich das Gesicht und holte dann die Flasche Wodka aus dem Schrank. In den Tee, den er sich aus dem Samowar zapfte, goß er eine große Portion des Alkohols und schlürfte das einzige belebende Getränk, das es bei dieser mörderischen Kälte gab, in vorsichtigen, schmatzenden Zügen.
    So traf ihn Abukow an, der Rassims Kommen vom Fenster aus gesehen hatte und sofort zu ihm ging.
    Der Kommandant, die heiße Teetasse am Mund, unterbrach sein Schlürfen nicht, sondern blinzelte Abukow über den Tassenrand hinweg zu. Unaufgefordert setzte sich Abukow und wartete, bis Rassim die größte Kälte aus sich hinausgetrieben hatte. An der Wand tropfte aus dem aufgehängten Pelzmantel das Wasser – der gefrorene Schnee taute in der Hitze des Zimmers.
    »Eine Kälte, bei der sogar die Wölfe weinen«, sagte Rassim und zapfte eine neue Tasse Tee. »Sie auch ein Täßchen, Victor Juwanowitsch ? Halb Tee, halb Wodka, das macht das Blut heißer als ein Tscherkessenweib ! Und so früh bricht der Frost herein. Erst der Wolkenbruch, jetzt die Kälte – nichts ist mehr so geordnet wie früher. Aber warum soll die Natur auch nicht verrückt spielen, wo doch um uns herum die Menschen immer blöder werden? Was wollen Sie von mir, Abukow ? Ohne Grund hocken Sie nicht herum wie ein hungriger Affe.«
    »Sehen wir davon ab, daß ich Ihnen aus Surgut zwei Pfund Pralinen mitgebracht habe – Rumtrüffel, Marzipan und Nougatschnitten – und zwei frische, ganze Ananas, die Sie zu einem Kalbsnierenrollbraten essen können …«
    »Halt!« sagte Rassim und hob die Hand. »Oh, wie gut kenne ich Sie jetzt, Victor Juwanowitsch ! Wenn Sie mir so etwas hinwerfen, ist's, als wollten Sie einen Tiger füttern, damit er nachher in der Manege brav Männchen macht. Ein halbes Jahr ist es jetzt her, daß Sie hier plötzlich auftauchten mit Ihrem Kühlwagen, und seitdem frage ich mich jedesmal, wenn ich Sie sehe: Was ist das für ein Kerl? Ein Kraftfahrer mit der Intelligenz eines Gelehrten. Und darüber hinaus einer der raffiniertesten Gauner, der mir je begegnet ist. Sie hätten mehr werden können als ein Transportarbeiter.«
    »Jeder an dem Platz, der ihm zugewiesen ist, Genosse Kommandant«, sagte Abukow und lächelte freundlich, während sein Herz wild zu klopfen begann. »Der Lebenslauf eines Menschen ist oft von Zufällen bestimmt.«
    »Was wollen Sie also?«
    »Für Samstag brauche ich mein Theater-Ensemble zur Verständigungsprobe, am Sonntag soll wieder gespielt werden.«
    »Die ›Lustige Witwe‹!« Rassim lachte dunkel und kurz. »Taufen Sie es um, Sie Hirnverbrannter. Mein Vorschlag: ›Die stammelnden Skelette‹.« Er kam zu Abukow , stellte ihm einen Tee mit Wodka auf den Tisch und rieb sich die noch frostroten Ohren. »Mehr werden Sie nicht auf Ihre Bretter bekommen. Alles, was da fröhlich herumhüpfte, ist jetzt froh, wenn es am Abend noch kriechen kann.«
    »Ich habe die Brigaden an der Trasse gesehen«, sagte Abukow und setzte die Tasse vorsichtig an

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