Ein Kreuz in Sibirien
Erdgasleitung!«
»Das ist ihr zweiter Winter an der Trasse. Vorher bauten sie die Straßen, sägten die Trassenführung aus dem Wald, rodeten die Bauplätze, legten die Sümpfe trocken, gruben die Fundamente für die Stützen und Pfeiler. Hier war nichts, nur Urwald! Sie haben es überlebt …«
»Wie viele?« fragte Abukow .
»Immerhin siebzig Prozent. Rassim ist stolz auf diese Zahl.«
»Unfaßbar ist das! Stolz auf Massenmord!« Er wehrte Larissa Dawidowna noch immer ab, die ihn umarmen wollte, und knöpfte seinen dicken Mantel auf. »Ich gehe zu Rassim .«
»Einen Tritt wird er dir geben.«
» Wolozkow wird helfen.«
»Ach, der liebe Ilja Stepanowitsch … Mit dem Einbruch des Frosts ist er trübsinnig geworden. Sitzt in seinem Zimmer herum, hört grusinische Volksmusik und starrt in ein Album mit Bildern von der Krim. Seine Braut hat von sich hören lassen. Sie hat geschrieben: Mag es auch eine Ehre sein, am Aufbau mitzuhelfen – ich liebe die Wärme, die Palmen und Rosenbüsche am Strand, die Kamelien und den Oleander in den Gärten, den weißen Sand am Meer, die Sonne am Himmel, den samtweichen Wind in der Nacht, den Gesang der Zikaden … Ich kann nicht zu dir nach Sibirien kommen, niemals! – Von da an gab es keinen Wolozkow mehr. Was da herumsitzt, ist ein Schatten in den Kleidern des Wolozkow .«
»Woher weißt du das?« fragte Abukow heiser vor Erregung.
»Den Brief hat er mir vorgelesen und dann um ein starkes Schlafmittel gebeten. ›Sorgen Sie dafür, Larissa Dawidowna , daß ich zwei Tage schlafe‹, hat er zu mir gesagt. ›Nicht aufwachen darf ich, sonst bringe ich mich um. Vielleicht ist es nach zwei Tagen besser.‹ – Ich habe ihn drei Tage schlafen lassen, hier im Hospital, habe ihm noch drei Injektionen gegeben.« Sie schüttelte den Kopf und hielt Abukow am Ärmel des Mantels fest. »Wo willst du hin, Victor? Wolozkow ist es völlig gleichgültig, was mit den Sträflingen passiert. Er kann dir nicht helfen, niemand kann dir helfen. Begreif doch: Das ist Sibirien! Das ist ein Straflager! Das ist unser Winter …«
Abukow riß sich aus ihrem Griff los und stürmte hinaus. Auf dem Platz traf er Mirmuchsin , der ihn schon gesucht hatte. »Mein Herzensfreund!« schrie Mustai . »Endlich bist du da! Hast du alles mitgebracht für mich?«
»Für dich?« Abukow blieb stehen. »Was soll das sein?«
»Ist mein Brief nicht angekommen?«
»Kein Brief!«
»Welch ein Unglück! Kein Brief? Mitgegeben habe ich ihn einem Hubschrauber. Zur Post sollte er ihn geben. Allah kastriere alle Postbeamten! Was mach ich nun? Verhungern kann ich. Mein Vermögen schläft in Tjumen auf der Post.«
»Welches Vermögen?«
»Kann man im Winter von Limonade leben? Wer trinkt da gekühlte Säfte? Wärme muß im Bauch sein, wenn draußen die Bäume im Frost platzen. Ein guter Fabrikant stellt sich dann um: Ich produziere Glühwein! Aber geht das? Nein! Die Pakete mit den Essenzen liegen in Tjumen auf der Post! Soll ich heißes Wasser verkaufen? Aus einer Flasche Grundsubstanz mache ich zehn Liter Glühwein! O diese Post … er hat meinen flehenden Brief nicht erhalten …«
Abukow ließ den jammernden Mustai stehen und rannte weiter zur Kommandantur. Wolozkow saß in seinem Zimmer, hörte tatsächlich grusinische Volkslieder und sah sehr bleich und viel älter aus, als er war. Bei Abukow s Eintritt stellte er die Musik ab.
»Ist Ihnen klar, Ilja Stepanowitsch «, rief Abukow ohne Einleitung oder Begrüßung, »daß Sie Ihre Macht verschenken? Kapitulieren Sie vor Rassim ? Zum Herr über Leben und Tod machen Sie ihn!«
»Das war er schon immer«, antwortete Wolozkow müde. »Lassen Sie sich begrüßen, Victor Juwanowitsch . Setzen Sie sich. Erzählen Sie, wie es draußen in der normalen Welt aussieht. Gibt es da noch Menschen, die lachen können?«
»Es wäre besser, zu fragen: Warum werden hier sinnlos Menschen vernichtet?« Abukow warf seinen dicken Mantel ab, es war heiß im Zimmer; der Ofen, ein rundes Ding aus Gußeisen, gluckerte. »Waren Sie schon mal draußen an der Baustelle, jetzt, nach dem Frost?«
»Nein.« Wolozkow winkte ab. »Ich sehe sie jeden Abend zurückkommen, das genügt mir.«
»Und Sie nehmen das einfach hin?«
»Man muß lernen, mit Rassim zu denken: Es sind gefährliche Verbrecher gegen den Staat. Ob politisch oder kriminell – warum soll man sie auseinanderhalten?« Wolozkow grinste verzerrt. »Wenn man sich diese Denkweise angewöhnt, blickt man darüber hinweg wie über eine
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