Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Kreuz in Sibirien

Ein Kreuz in Sibirien

Titel: Ein Kreuz in Sibirien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
Vom Netzwerk:
nicht mehr aus – hatte vorher vier Flaschen Kwaß getrunken – und sagte sich trotz aller Warnung und Erfahrung: Es muß einfach sein, ehe ich mir die Hose benässe . Also hielt er den Wagen an, sprang raus, stellte sich hinter sein Auto und ließ es strahlen. Zwei Minuten später hörte man ihn jämmerlich brüllen – fest vereist mit seinem Wagen war er! Natürlich konnte er sein gutes Stück vom Eis abbrechen, aber der Frost war schon drin, ins Krankenhaus mußte er, lag da mit rollenden roten Augen, den Prachtkerl eingesalbt und dick verbunden, und tagelang wußten die Ärzte nicht: soll man ihn abschneiden, oder ist er noch zu retten? Das hättest du sehen sollen, diese Prozession der Schwestern zu seinem Bett. Jede wollte die Erfrierung zweiten Grades bewundern, und seine Frau lag vor den Ärzten auf den Knien und flehte: ›Liebe Genossen, laßt ihn dran!‹ – Seitdem nimmt Krushilin immer ein Eimerchen mit auf Fahrt. Das möchte ich dir auch raten …«
    Was Abukow für eine Übertreibung gehalten hatte, geschah tatsächlich: der Kühlwagen mußte auch bei härtestem Frost fahren. Smerdow handelte streng nach Vorschrift und schickte Abukow mit der verderblichen Ware herum in einem Kühlraum, der eine höhere Temperatur hatte als die Außenwelt. Nach zehn Tagen ununterbrochenen Schneefalls war der große, stille Frost gekommen, das Väterchen Sibiriens, wie ihn die Eingeborenen nannten. Das Land erstarrte, die Bäume wurden wie aus Eisen. Zwar war der Himmel wieder von einer unendlichen herrlichen Bläue, aber nur Kälte fiel aus ihm herab, manchmal begleitet von eisigen Winden, deren man sich nur erwehren konnte, wenn man sich verkroch in die Sicherheit der Häuser. Dort waren von innen alle Fensterritzen mit Papier verklebt, die Öfen bullerten und glühten, die Samoware summten, und in den Bauernkaten verzog sich die gesamte Familie zum Schlaf auf die Plattform der dickleibigen, gemauerten Öfen – auf den Platz, wo im sibirischen Winter Leben gezeugt wurde und Leben erlosch. In Surgut gab es zwar ein modernes Heizwerk, das Wärme in die Stuben schickte, doch das betraf nur die genormten Neubauten der Neustadt. Im alten Teil kroch man um die guten alten Öfen zusammen.
    Schon auf dem Weg ins Lager JaZ 451/1 sah Abukow die Qual der Strafgefangenen: Die Fällbrigaden hatten ihre Not, die steinharten Bäume abzusägen. Noch ärger waren die Kolonnen dran, die mit stupfen Äxten die Äste abhauen mußten. Was die hochentwickelten Maschinen, die Schaufelradbagger, die sonst die drei Meter tiefen Gräben für die Rohre aus dem Boden fraßen, jetzt leisten konnten, das war nur ein Kratzen an der eisigen, stahlharten Oberfläche. Die Spezial-Bulldozer mit ihren blanken Eisenzähnen hackten lediglich noch eine Rinne in den Boden. Die riesigen Rohrlegemaschinen standen an der Trasse; für sie gab es zur Zeit nichts zu tun.
    Hier half nur noch Menschenkraft, und davon hatte man genug. Die Brigaden aus 451/1 standen wie ein Ameisenheer am Graben und hackten sich in die Tiefe; Zentimeter um Zentimeter, Meter um Meter in einen Boden, der bei jedem Hieb aufklang, als schlage man gegen Metall. Die Preßlufthämmer dröhnten, die Schaufeln klirrten, und neben dem Graben fuhren auf dem schmalen Gleis die eisernen Loren die herausgerissene Erde weg. Abukow hielt dreimal an, um dieses entsetzliche Bild in sich aufzunehmen: In alten, zerlumpten Mänteln, die Stiefel oft mit Stroh umwickelt, die meisten ohne gefütterte Mützen, nur mit Strickmützen geschützt und mit zerrissenen Handschuhen, schlugen sich die erbarmungswürdigen Gestalten durch den vereisten Boden.
    Im Lager angekommen, stellte Abukow seinen Kühlwagen bei Gribow vor die Tür und lief sofort hinüber zu Larissa Dawidowna . Sie hatte ihn schon vom Fenster aus gesehen, kam ihm entgegen und breitete die Arme aus. Zwanzig Tage hatte sie auf diesen Augenblick warten müssen.
    »Was da draußen geschieht, ist Mord!« rief Abukow mit wilder Stimme. Mit ausgestreckten Armen hielt er Larissa fest und wehrte ihre Küsse ab. »Ein Massenmord ist das! Kaum noch stehen können sie vor Erschöpfung!«
    »Ein Tag wie jeder andere ist's«, sagte sie schwer atmend. Das Glück, Abukow wieder bei sich zu haben, füllte sie ganz aus. »Und erst der Anfang! Der richtige Winter kommt noch.«
    »Sie werden alle sterben!« schrie Abukow . »Das hält niemand aus!«
    »Es sind viele unter ihnen, die den dritten, vierten Winter überlebt haben.«
    »Nicht an der

Weitere Kostenlose Bücher