Ein Kreuz in Sibirien
Stacheldraht. Wo ich arbeite, da gibt es keine Häftlinge. Ich richte eine Kompressor-Kühlstation ein.«
Beim Amtsarzt waren die Gespräche ergiebiger.
Wie bei allen amtlichen Untersuchungsstellen war der Warteraum überfüllt. Auf den Bänken hockten die Menschen, an den Wänden lehnten sie, bis auf den Flur standen sie herum. Es roch nach Schweiß, nach kaltem Tabakrauch, nach Ausdünstungen. Das Atmen wurde einem schwer. Abukow drückte sich an eine freie Stelle an der Wand und fingerte in seinen Rocktaschen herum.
»Versuch bloß nicht zu rauchen«, sagte der Mann neben ihm. »Die schmeißen dich sofort hinaus. Eine ganz rabiate Schwester haben sie da drin; flitzt plötzlich durch die Tür und kontrolliert. Ein Mordsweib, sag ich dir. Brüllt wie ein Feldwebel. Man muß schon wirklich krank sein, um nicht wegzulaufen.« Er sah Abukow forschend an und entdeckte keine Anzeichen einer Krankheit. »Ist's bei dir auch die Lunge?«
»Nein. Einstellungsuntersuchung.«
»Rohrschweißer?«
»Schwerlastfahrer. Ich will Geld machen, Brüderchen. Später kaufe ich mir einen eigenen Lastwagen und schließe mich einer Transportkommune an. Nur hier soll man einen goldenen Schwanz bekommen, hat man mir gesagt. Filme hat man uns gezeigt – vor Begeisterung haben wir geschwitzt. In meinem Betrieb haben sich neun für die Pipeline gemeldet. Da draußen in der Taiga muß ja was los sein.«
»Du wirst's sehen, Genosse!« Der Mann stieß Abukow in die Seite. Die Tür zur Ordination wurde aufgerissen. Ein Turm von Weib erschien, durch die Schwesternhaube noch gewaltiger wirkend. »Jetzt im Sommer fressen dich die Mücken. Im Winter kannst du nicht im Freien pinkeln, weil du dann sofort 'nen Eiszapfen dran hängen hast … Aha, jetzt geht's los!«
»Hier raucht einer!« brüllte der Weiberberg an der Tür. »Dabei steht's groß an der Wand: Verboten! Wenn ich den Dreckskerl erwische! – Die nächsten vier zum Doktor!«
Vier Männer quetschten sich an der Schwester vorbei ins Zimmer, die Tür knallte zu.
Abukow strich sich über die Augen. »Untersucht der vier auf einmal?«
»Wie soll er sonst durchkommen? Auch der Doktor ist nur ein Mensch. Du wirst es sehen – bei dir geht es ruckzuck, du bist gesund, bekommst deine Stempelchen ins Papier und darfst endlich in die Taiga. Du Vollidiot!«
Nach drei Stunden war Abukow an der Reihe. Der Schwesternturm gab ihm einen Stups, er stolperte zu einer Liege. Die drei anderen, die mit ihm zur Untersuchung gekommen waren, verteilten sich in die anderen Ecken.
»Hose runter!« bellte das liebe Wesen in Schwesterntracht. »Welche Beschwerden?«
»Keine, liebste Genossin.«
Es mag sein, daß noch niemand ›liebste Genossin‹ zu ihr gesagt hatte – mit starrem Gesicht sah sie Abukow an, und ihre Nasenflügel blähten sich.
»Nichts?«
»Rein gar nichts, Schwesterchen.«
»Eine Ohrfeige können Sie bekommen, dann haben Sie einen schiefen Kopf!«
»Das würde mich sehr belasten. Ich bin zur Einstellung hier. Tauglichkeitsuntersuchung.«
»Hose runter!« Die Stimme der Genossin schwoll an. »Aber schnell!«
Aus der linken Ecke, wo der Amtsarzt gerade seinen Patienten abklopfte, klang ein Räuspern. Der Doktor war ein kleiner, spitzgesichtiger, weißhaariger Mensch, der einen viel zu langen weißen Kittel trug und ziemlich hilflos wirkte. Stand er neben diesem Turm von Schwester und holte diese tief Atem, mußte man befürchten, daß er ihr quer unter der Nase klebte.
»Was gibt es?« fragte der Amtsarzt. Daß jemand seiner Schwester Widerworte gab oder gar mit ihr diskutierte, war so ungeheuerlich, daß Abukow wie ein antiker Held wirkte. »Grunduntersuchung!« schrie das Schwesterchen. Sie riß Abukow die Papiere aus der Hand, ging zum Schreibtisch und setzte sich. Wie bei allen amtlichen Formularen gab es ungefähr neunzig Fragen, angefangen von ›Hatten Sie Kinderkrankheiten?‹ bis ›Gibt es in Ihrer Familie geistig Gestörte?‹
»Sie sind tauglich«, sagte der Amtsarzt nach einer Viertelstunde, was geradezu eine Auszeichnung war, denn fünfzehn Minuten sind eine wahnwitzige Zeitverschwendung für einen einzelnen Mann. Abukow stand nackt vor ihm, der Schwesternturm füllte noch einige Fragen aus, eine ungewohnte Situation war es. Zum erstenmal stand Abukow nackt einer Frau gegenüber. Er sah ihren Blick über seinen muskulösen, sportlichen Körper wandern und kam sich sehr merkwürdig vor. Monsignore Battista, das wußte er, hätte sich jetzt die Hände
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