Ein Kreuz in Sibirien
gerieben.
»Wissen Sie, daß Sie aus meiner Heimatstadt kommen?« fragte der Arzt.
Abukow zuckte zusammen. »Welch ein Zufall, Genosse Doktor.«
»In der Uliza Polskaja Nummer 9 bin ich geboren. Steht das Haus noch?«
»Ich glaube ja.« Abukow wurde es etwas heiß. Man muß das Gespräch schnell beenden, dachte er. Was tun, wenn der Doktor nach Einzelheiten fragt.
»Ich schreibe Sie tauglich für die Transportbrigade III«, sagte der kleine Amtsarzt freundlich und setzte seine Unterschrift unter das Formular. Mit einem Knall drückte das Schwesterchen den Stempel daneben. »Die Brigade III ist zuständig für die Lebensmitteltransporte und den Magazinbedarf.«
Er blinzelte Abukow zu, und Abukow wagte es zurückzublinzeln. Zwei Männer aus der gleichen Stadt, man trifft sich in Sibirien, in Tjumen an der Tura – das verbindet innerlich. Da kann man, ganz offiziell, ein gutes Geschenk machen: Ein Plätzchen bei den Lebensmittelfahrern. Hast immer zu fressen, lieber Freund, leidest nie Not, brauchst nur nach hinten zu greifen in den Wagen. Du fährst ja das Schlaraffenland durch die Taiga. Jeden Tag! Man sollte dich umarmen, Genosse Amtsarzt.
Abukow zog sich an, nahm die Papiere an sich, verbeugte sich höflich vor der völlig verstörten Schwester und wünschte ihr ein langes Leben – hier, wo jeder ihr den Satan an den Hals betete! Dann ging er hinaus, aber erst draußen auf der Straße holte er tief Luft, ein paarmal, lehnte sich an einen Laternenpfahl und brauchte ein paar Minuten, um zu begreifen, daß er jetzt ein Mitglied der Pipelineorganisation war; ein angestellter Kraftfahrer, der in der Lohnliste geführte Victor Juwanowitsch Abukow, Transportbrigade III.
Auf dem Weg zum Wohnheim kaufte er sich an einem Wagen ein großes gemischtes Eis und fand bestätigt, was jeden Italiener zum weißglühenden Sprengkörper macht: Das russische Eis ist das beste der Welt. Sein Eis lutschend, bummelte er dann durch Tjumen und übersah dabei völlig, daß ein unbekannter Mann ihm folgte.
Es gibt Menschen, die werden geboren, um zu leiden. Gott allein weiß, warum das so ist, denn eigentlich dürften sie gar nicht auf die Welt kommen. Wo sie auch auftauchen – nirgendwo haben sie Ruhe, jedermann kühlt sein Mütchen an ihnen und darf alles mit ihnen anstellen. Man erwartet von ihnen, daß sie alle Pein still dulden, und begehren sie doch einmal auf in einem Anfall von verzweifeltem Mut, dann stürzt man sich auf sie und tritt nach ihnen.
Ein so armer Mensch war Mustai Jemilianowitsch Mirmuchsin. Bereits sein Name lastete auf ihm wie ein Klumpen Unrat: Wer heißt schon Mirmuchsin? Da spielte es keine Rolle, daß sein Heimatland Usbekien war und daß sein Vater noch zu Allah betete in der großen Moschee von Samarkand und mit der Stirn den Teppich berührte, auf dem Kopf die buntbestickte Filzkappe. Darüber hinaus war Mustai völlig aus der Art geschlagen. Er hatte rote Haare! Der Himmel möge einstürzen – wie war so etwas möglich? Ein Usbeke mit feuerroten Haaren – das war eine Strafe Allahs.
Als Mustai geboren wurde und sein Vater die roten Haare bemerkte, verprügelte er seine Frau, davon überzeugt, daß sie mit einem Weißen gehurt hatte, einem Nationalrussen, und daß sein Sohn ein vollendeter Bastard sei. Und als Bastard wuchs Mustai, der arme, auf.
Er erlernte den Beruf eines Limonadenherstellers. Wer da sagt, Limonade zu produzieren sei keine Kunst, der weiß nicht, was Limonade in Südrußland, in Usbekien, bedeutet. Was wären Samarkand oder Taschkent ohne Limonadenverkäufer? Der große Trick, und das muß man lernen, ja geradezu studieren, ist die Produktion der Limonade mit möglichst wenig Auslagen. Sie muß schmecken wie ein Quell aus Allahs Garten, darf aber in der Herstellung kaum etwas kosten – da liegt die Basis des Wohlstandes. Wie uralte Familienrezepte geradezu als Heiligtümer vererbt werden, so blieben auch die Limonadenmixturen bis zum Tod verteidigte Geheimnisse, und der Erbe mußte schwören, sich eher den Kopf abhacken zu lassen, als zu verraten, wie man aus einem Nichts eine köstlich schmeckende Limonade herstellt. Mustai Jemilianowitsch Mirmuchsin lernte die Herstellung von zwei Sorten: Marakuja und Passiflora (die auch Passionsblume heißt). Limonaden aus diesen Säften gehören zum Köstlichsten, was man einem Gaumen bieten kann – vorausgesetzt, es gibt genug Saft von diesen Pflanzen. Solche Engpässe zu umgehen, das eben ist die Kunst der Limonadenbrauer.
Mit den
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