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Ein Kreuz in Sibirien

Ein Kreuz in Sibirien

Titel: Ein Kreuz in Sibirien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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zwei Sorten kam Mustai aus, auf die gründete er sein Leben. Es war ein solides Fundament, solange man in Usbekien lebte. In Sibirien allerdings sah die Welt anders aus. Zunächst kannte dort niemand Marakuja und Passiflora; man bevorzugte – wennschon Limonade im Sommer – die schmackhaften Waldhimbeeren, Walderdbeeren und die vitaminreichen Hagebutten, trank den würzigen Birkenwein, vergorene Heidelbeeren und Kirschwein. Und man brannte Schnaps aus Kartoffeln und Zuckerknollen – ein höllisches Gesöff, nach dem man stundenlang verblöden konnte. Als nun Mustai mit seinen Limonaden auftauchte, fand er den Markt gesättigt. Für Marakuja oder was immer das war, was er da zusammenmixte, gab es wenig Interessenten.
    Nach Sibirien war Mustai gekommen, weil man ihm erzählt hatte, Usbekien sei zwar ein schönes Land, warm und fruchtbar, von Allah geküßt – aber wer sich nach Sibirien begebe, an die neuen Zentren des Aufbaus, der könne dort mehr verdienen als die Gauner in Samarkand. Solche Argumente überzeugen. Das alte Lied war's: Propagandisten priesen das neue Paradies im Norden, das Jahrhundertwerk der Pipeline und der Ölkombinate, die 2.000 Kilometer lange Straße, die neuen Städte und Siedlungen, wo das Geld locker saß. Dieses jungfräuliche Land, in das einmal Millionen neuer Siedler strömen würden.
    Mustai erkundigte sich eingehend, ob man dort auch Limonade trank. Man bestätigte es ihm sofort, lachte ihm freundlich zu, denn man hielt ihn für ziemlich blöd und überreichte ihm die Antragsformulare. So kam Mustai in Taiga und Sumpf, verfluchte die ganze Menschheit und war inzwischen schon zwei Jahre lang an der Trasse bei Surgut und in den Sümpfen zwischen den Flüssen Agan und Minchimkina. Es war genau das Gebiet der Lagergruppe JaZ 451/1, und man kann sich denken, daß dort der Absatz von Marakuja-Limonade sehr problematisch ist. Nichts war es mit einem Rubelvermögen, und Mustai, den alle nur den ›Blöden‹ nannten, mußte sein Essen als Beifahrer verdienen. Aber weil er eben blöd war – wenigstens schien es so –, setzte man ihn überall dort ein, wo andere sich drückten. Bis der Sommer kam! Dann nämlich schnallte er sich, stur wie er war, seine beiden verzinkten Kanister auf den Rücken und zog mit seinen selbstgebrauten Limonaden herum.
    Jeder kannte ihn, und da man einen Blöden für ungefährlich hielt und man bei Mustai sah, daß er das Leben hinnahm, wie es ihm entgegenkam, hatte niemand etwas dagegen, wenn er seine Limonadenwerkstatt im Hauptmagazin des Lagers 451/1 einrichtete. In einem Schuppen neben dem Kühlhaus, wo das Fleisch an Haken hing, das hauptsächlich zur Ernährung der Bewachungskompanien diente.
    Magazinverwalter war der Genosse Kasimir Kornejewitsch Gribow, ein fetter Kerl, der ein Verhältnis mit der Leiterin der Lagerküche hatte, der derben Nina Pawlowna Leonowna. Allerdings faßte auch der politische Kommissar Jachjajew Nina gern unter die Röcke.
    Es war nun Anfang Juni, Billionen Mücken surrten über den Sümpfen nördlich der Ob-Niederungen. Das Schmelzwasser war abgeflossen, aber der Boden blieb noch schwabbelig wie ein Pudding. Mustai hatte sich seinen Urlaub genommen, aber nicht, um in die usbekische Heimat zu fliegen, sondern um in Tjumen der Post aufzulauern, die ihm aus Samarkand die Fläschchen mit den geheimnisvollen Mixturen bringen sollte. Mixturen, aus denen er dann seine unschlagbare Marakuja-Limonade braute. Vier Pakete waren schon eingetroffen, aber sechs weitere noch unterwegs. Mustai machte sich große Sorgen: Auf dem Weg von Samarkand bis Tjumen geht die Post durch zu viele Hände … Allah verfluche alle, die sich an seinen Mixturen vergreifen sollten! Das Schicksal wollte es, daß Mustai im Wohnheim sein Bett neben Abukow bekommen hatte. Und Mustai war es auch, der Abukow nach dessen amtsärztlicher Untersuchung in einiger Entfernung durch die Straßen verfolgte, ihn das Eis lecken sah und sich wunderte, daß ein Pipelinearbeiter sich für die Auslagen der Buchhandlungen interessierte, sogar einen dieser Läden betrat und sich ein Buch kaufte. Für Mustai war das etwas Ungeheures; er war neununddreißig geworden, ohne jemals ein Buch in der Hand gehabt zu haben.
    Er wartete bis zum Abend, setzte sich dann auf sein Bett und betrachtete Abukow, der schon auf dem Rücken lag und in dem Buch las. Eine unerklärliche Zuneigung zu diesem fremden Genossen hatte ihn von Beginn an erfaßt; man hatte sich von Bett zu Bett zugenickt, weiter

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