Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Kreuz in Sibirien

Ein Kreuz in Sibirien

Titel: Ein Kreuz in Sibirien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
Vom Netzwerk:
Tjumen nebeneinander im Wohnheim, Genossin Chefärztin«, sagte Abukow. Sein Lächeln schien sie wieder zu irritieren. »Mustai, der Halunke, durchwühlte in meiner Abwesenheit meinen Koffer und fand zwei weiße Hemden und eine schwarze Krawatte. Das begriff er nicht.«
    »Es ist auch ungewöhnlich für einen Fahrer, nicht wahr?«
    »Ich gehe gern in ein Theater, das ist es. Während meine Kameraden saufen oder bei den Mädchen ihre Rubel lassen, höre ich mir lieber ›Boris Godunow‹ an oder bewundere ›Schwanensee‹.«
    »Sie scheinen ein ungewöhnlicher Mensch zu sein, Victor Juwanowitsch«, sagte die Tschakowskaja verwundert. »Kommen Sie morgen gegen 11 Uhr zu mir ins Hospital.«
    Sie nickte ihm zu, drehte sich auf dem Absatz um und ging mit schnellen Schritten davon. Wie eine Flucht sah es aus.
    Abukow blickte ihr nach, zerdrückte dann seine Papyrossi mit dem Stiefel und schlenderte in die Richtung, aus der Larissa Dawidowna gekommen war. Aber er konnte nichts Besonderes feststellen, sah keinen Lichtschimmer, fand aber auch keine Erklärung, wo in dem Komplex der Werkstätten und Schuppen ein Kranker dringende ärztliche Hilfe brauchte, nachts um zwei Uhr. Dort wohnte niemand. Da lagerte nur Material. Hinter den dunklen Fenstern der Tischlerei standen in diesem Augenblick neun Männer und beobachteten mit angehaltenem Atem den Fremden, der mit den Händen in den Hosentaschen lässig durch die Nacht spazierte und sich umsah. Ab und zu blieb er stehen, musterte die stillen, dunklen Gebäude, wandte sich dann ab und schlenderte zurück zu den abgestellten Lastwagen. Bei den Autoschuppen wurde er dann unsichtbar, die Nacht saugte ihn auf.
    »Kennt ihn jemand?« flüsterte einer der Männer am Fenster. »Wo gehört er hin?«
    »Muß neu sein, Professor.«
    »Auf jeden Fall ist es ein Zivilist. Micha soll sich um ihn kümmern. Als Elektriker hat er die besten Möglichkeiten. Er trägt Stiefel, bei dieser Hitze! Daran kann ihn Micha erkennen. Und Pawel soll Mustai fragen. Der sieht, hört und riecht alles. Was macht dieser fremde Mensch um diese Zeit im Freien? Hoffentlich hat er Larissa nicht gesehen! – Gott sei mit euch …«
    Der Mann, der einmal vor vier Jahren Professor für Kybernetik gewesen war, wartete, bis die anderen die Tischlerei durch einen Seitenausgang verlassen hatten. Unter einem verschiebbaren Palisadenbrett krochen sie nacheinander ins Lager zurück, warteten ab, bis sie im toten Winkel des Scheinwerferstrahls waren, und sprangen dann wie die Hasen zu einem hohen Bretterstapel. Dort waren sie sicher, von da huschten sie zu ihren Baracken zurück. Der Professor zog zwei Nägel aus zwei dünnen Holzleisten, mit denen sie zu einem Kreuz zusammengefügt worden waren, warf die Leisten auf einen Haufen anderer Hölzer und schlich sich aus der Tischlerei davon zur Wäscherei. Dort wohnte er. Er war im Sprachgebrauch des GULAG ein sogenannter ›Geleitfreier‹, ein Sträfling ohne Bewachung, ein Sibirienverbannter mit dem Vorrecht, sich außerhalb des geschlossenen Lagers bewegen zu dürfen. Er arbeitete vormittags im Hospital als Pfleger, nachmittags in der Wäscherei am Sortierband. Man war seiner sicher. Mit dreiundsechzig Jahren flüchtet man nicht mehr aus der Taiga.
    Abukow kehrte in die Wohnung von Gribow zurück, wo alle noch so lagen und schliefen, wie er sie verlassen hatte. Er setzte sich an den Tisch, schob Ninas Kopf etwas zur Seite und legte sein Gesicht auf die gekreuzten Unterarme.
    Der erste Tag in seiner neuen Heimat war ein guter Tag gewesen. Er hatte viel gesehen und gehört, und plötzlich fühlte er sich wohl in seiner Aufgabe, vor der er solche Angst gehabt hatte.
    Pünktlich um elf stand Abukow im Warteraum des Hospitals, um bei Larissa Dawidowna vorgelassen zu werden. Die morgendlichen Selektionen der Kranken, das gefürchtete ›Arbeitsfähig!‹, waren vorbei. Auch die Visite bei den wirklich Schwerkranken war beendet. Nur sie bekamen ein Bett. Die leichteren Fälle blieben im Lager. Trotzdem mußte Abukow noch warten, denn aus dem Untersuchungszimmer drangen erregte Laute.
    Jachjajew war aufgetaucht. Seine Laune befand sich auf dem tiefsten Punkt, denn am frühen Morgen hatte er eine deutlich vom Alkoholkater gezeichnete Nina Pawlowna im großen Kesselsaal der Küche angetroffen, wo sie mit Schöpfkellen nach den Küchengehilfen warf. Der Politkommissar ahnte, daß Fettsack Gribow hinter der nächtlichen Feier steckte. Den Hals sollte man ihm umdrehen, dem schwabbeligen

Weitere Kostenlose Bücher