Ein Kreuz in Sibirien
er verschluckte sich und schüttelte sich in einem Hustenkrampf. »Zur Wache kommst du mit! In den Kasten kommst du! Name?«
»Fragen Sie bei der Transportbrigade III in Surgut.« Abukow schob den zitternden Jachjajew zur Seite. Für den fielen die Wolken auf die Erde, so ungeheuerlich fühlte er sich behandelt. »Ich fahre den Kühlwagen Nummer 11. Freundschaft!«
Er hob die Faust und betrat das Arztzimmer, ohne abzuwarten, ob er eintreten durfte. Jachjajew starrte entgeistert auf die zufallende Tür, spuckte dann gegen die Wand und stürmte mit gesenktem Kopf aus dem Hospital. Auf dem Vorplatz traf er Mirmuchsin, der auf einer Karre einen Sack Zucker zu seiner Limonadenbrauerei schob. So etwas bekommt man nicht ohne Berechtigungsschein; Mustai Jemilianowitsch konnte jederzeit und allerorts damit aufwarten. Er besaß einen ganzen Block Blankoscheine, mit Unterschrift und Stempeln. Usbekische Fingerfertigkeit hat sich schon immer ausgezahlt. In dieser Hinsicht hatte Mustai die beste Lehre hinter sich. Wer blöd ist, sollte wenigstens schnelle Hände haben. Jachjajew schoß auf ihn zu wie ein Stier in der Arena. »Halunke! Wo ist der Zucker her?« schrie er. »Schiebt hier so einfach einen Sack weg! Einen ganzen Sack!«
»Hast du einen halben, Genosse?« fragte Mustai freundlich. »Mein Beileid.«
Larissa und Abukow beobachteten vom Fenster aus, wie Jachjajew dem Karren von Mustai einen Tritt versetzte und Richtung Kommandantur weiterlief. Dann sahen sie sich für einen kurzen Augenblick wortlos an.
»Wer ist denn das?« fragte Abukow, um Larissas Musterung zu entgehen.
»Der politische Kommissar. Ein Mann, der die Dissidenten zu neuen Bolschewisten erziehen soll. Aber die Strafgefangenen hören ihm nur zu, weil sie dann eine Stunde weniger arbeiten müssen. Viele schlafen dabei mit offenen Augen. Das haben sie gelernt: Sie blicken einen an, aber das Auge ist leer. Sie schlafen.«
»Und Sie erzählen mir das, ohne zu wissen, wer ich bin …«
»Ich habe über Sie nachgedacht, Genosse Abukow. Wer nach Sibirien kommt und daran denkt, in die Oper zu gehen, der ist ein besonderer Mensch.« Sie lächelte leicht, zeigte auf einen alten Sessel mit zerschlissenem Wollbezug und wartete, bis Abukow sich niedergelassen hatte. Dann setzte sie sich selbst hinter ihren Schreibtisch, nahm ein durchsichtiges Kunststofflineal zwischen die Hände, bog es und ließ es wieder gerade schnellen. Immer wieder. »Sie sind auch nicht krank …«
»Nein, Genossin. Ich fühle mich wie ein ausgeschlafener Bär. Ich hatte nur den Gedanken … Ich wollte Sie gern kennenlernen …«
Im Hospital stand unterdessen der weißhaarige Sträfling, der einmal Professor für Kybernetik gewesen war und jetzt die Schwerkranken wusch und ihnen die Urinflaschen anlegte oder ihnen die Pfanne unterschob, am Telefon und rief hinüber zu der Bäckerei. Dort arbeitete, auch als ›Geleitfreier‹, der ehemalige Schriftsteller Miron Arikin.
»Jetzt ist er bei Larissa Dawidowna«, sagte der Professor hastig. »Hat sich mit Jachjajew angelegt – und nichts ist ihm geschehen. Muß ein einflußreicher Bursche sein. Vorsicht, Freunde! Warnt alle anderen. Hat Ilja schon etwas erfahren können?«
Ilja Kriwow, der einmal Staatsanwalt in Odessa gewesen war, schleppte jetzt Elektrokabelrollen und zog Leitungen entlang der neuen Pipeline. Er hörte viel, was andere nicht erfuhren. Aber auch Ilja konnte keine Auskunft geben.
Nacheinander rief der Professor seine Freunde in den verschiedenen Werkstätten an, zuletzt den ehemaligen Chirurgen Wladimir Fomin, einen Gehirnspezialisten. Er hatte früher die Neurochirurgische Abteilung einer großen Nervenklinik geleitet, bis er sich weigerte, das Wesen prominenter Systemkritiker durch präfrontale Lobektomien zu verändern. Das brachte ihn, der so viel Verschwiegenes wußte, in das sibirische Lager. Jetzt arbeitete Fomin nicht etwa im Hospital, sondern hockte in der Schuhwerkstätte an einer Sohlenheftmaschine.
Von ihm kam die erste Information. Er hatte gehört, daß man gestern zehn Kübel voller Fleisch ausgeladen hatte. Aus dem Kühlwagen Nummer 11. Nun wartete man voll Spannung, ob die nächsten Suppen ein paar Fleischfaserchen als Einlage aufwiesen. Die vier Häftlinge, die beim Ausladen geholfen hatten, wurden vorsichtig befragt, ob sie irgendetwas aufgeschnappt hatten. Der Fahrer war ein Neuer. Wußte man, was da dahintersteckte?
»Ein Kühlwagenfahrer!« meldete der Professor den anderen weiter. »Ein
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