Ein Kreuz in Sibirien
habe Angst. Darum gründe ich doch das Theater.«
»Dein idiotisches Theater!« Mirmuchsin spuckte in die Ecke. »Ein Wort davon an der richtigen Stelle, und du bist weg in einer Anstalt.«
»Du hast es nicht begriffen, Mustai! Du lieber Himmel, das sehe ich jetzt. Ich komme von der richtigen Stelle. War heute bei ihm, dem Kulturbeauftragten der Region. Habe stundenlang mit ihm gesprochen und vier Vollmachten bekommen: Damit kann ich jetzt arbeiten. Gegen Jachjajew!«
»Gegen?« sagte Mustai gedehnt. »Wieso denn?«
»Theater ist ein Stück Freiheit … du wirst es sehen.«
»Du kannst dein Theater spielen, Freundchen?« Mustai riß die Augen auf. Unglaublich war das. Da hätte man bald einen erwürgt, der nur auf ein paar erhöhten Brettern stehen und sprechen oder singen wollte. Er ließ den Seidenstrick in der Tasche los, zog die Hand heraus und bemühte sich, seine bösen Gedanken zu vernichten. »So richtig Theater? Mit einem, der ein eiskaltes Händchen hält, und das Weibchen, die Blöde, hustet und singt doch dabei in den höchsten Tönen?«
Abukow lächelte. »Wenn wir ein paar gute Sänger unter den Gefangenen haben – auch das spielen wir dann, Mustai.«
»Wie kann man singen mit leerem Bauch?«
»Es wird sich alles finden, mein Freund, alles! Laß uns nur wieder im Lager sein. Ich habe zwar vier Vollmachten in der Hand, aber es hängt alles davon ab, was Jachjajew und Kommandant Rassim sagen. Sie sind die maßgebende Instanz. Der Genosse hier in Tjumen kann nur raten und befürworten.«
»Erledigt!« sagte Mirmuchsin. »Bei der Vorstellung, daß seine Häftlinge auf der Bühne singen, macht er sich in die Hose.«
»Nein, er wird begeistert in der ersten Reihe sitzen«, sagte Abukow und legte sich zurück aufs Bett. »Mustai, mein Lieber, laß mir meinen Schlaf! In den nächsten Wochen werde ich wenig davon haben.«
Auf die Seite drehte er sich, seufzte tief und schloß die Augen. Aber er schlief nicht, auch wenn sein Atem so klang. Er wartete darauf, was Mustai tun würde.
Mirmuchsin starrte Abukows Rücken an und kratzte sich die Haare. Soll einer schlau aus ihm werden, dachte er unsicher. Kommt freiwillig nach Sibirien, um einen Schwerlaster zu fahren. Hat einen dunklen Anzug und weiße Hemden bei sich. Macht mit Gribow, dem Gauner vom Magazin, faule Geschäfte. Schenkt dem General Schmalz und Schokolade und verspricht ihm Hühner. Will ein Theater im Lager machen und gegen Jachjajew kämpfen. Und das alles soll normal sein? Benimmt sich so ein Lastwagenfahrer? Dem Teufel sei's gesagt: Ich finde mich nicht mehr zurecht. Das soll der Professor entscheiden. Zunächst – das allein ist sicher – bleibt Abukow noch ein bißchen leben.
Nur ein Aufschub war's, das beschloß Mustai in dieser Nacht. Entschloß man sich im Lager anders, gab es noch viele Möglichkeiten, Abukow ins große Vergessen zu würgen. Das war zwar nicht christlich und durchaus nicht im Sinne des Mannes, der Jesus geheißen hatte, aber Mirmuchsin war ja kein Christ – und wer von Mohammed gelesen hat, der weiß, daß der Prophet Allahs nicht zimperlich war. Armer Victor Juwanowitsch, dachte Mustai und legte sich auf den Rücken; unsere Freundschaft hätte so schön sein können!
Er lauschte auf Abukows langen Atem und erkannte noch immer nicht, daß sein Instinkt, was Menschen angeht, ihn so völlig verlassen hatte. Dann schlief Mustai ein und schnarchte wie ein Bock. Erst jetzt sagte sich Abukow, daß es für ihn Zeit sei, ebenfalls noch ein wenig den Schlaf zu suchen.
Am nächsten Morgen flog Mirmuchsin zurück nach Surgut. Abukow blieb in Tjumen und wollte – wie er sagte – mit dem Nachmittagsflugzeug nachkommen. Er habe noch wegen des Theaters einiges zu tun. Das konnte stimmen, aber auch nicht – zu kontrollieren war es nicht mehr.
Mustai umarmte Abukow, gab ihm einen Wangenkuß und dachte, als er in der Maschine saß: Jeder im Lager würde sich an die Stirn fassen, sollte er von den Theaterplänen erzählen. Wie kann man nur so blöd sein, diesen Wahnwitz zu glauben, würde man sagen – Mustai, was ist aus dir geworden? Abukow hat dich mit lächelndem Gesicht betrogen. Das war es, was Mirmuchsin traurig werden ließ. Er seufzte ein paarmal, blickte wehmütig auf die Landschaft unter sich, auf die dunklen Wälder und braungrünen Sümpfe, die tausend Augen der kleinen blauen Seen und das Geäder der Flüßchen und rang dabei die Hände. Er wußte nicht, was er tun sollte.
Abukow unternahm an diesem Morgen
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