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Ein Kreuz in Sibirien

Ein Kreuz in Sibirien

Titel: Ein Kreuz in Sibirien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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einen ausgedehnten Spaziergang durch Tjumen. Nicht nur die glatten, modernen Neubauten interessierten ihn – es war überhaupt das Leben hier, was ihn faszinierte. Er begriff, daß man drüben im Westen ein völlig falsches Bild von diesem Land bekommen hatte. Sibirien ist nicht nur Tundra, Taiga, Steppe und Wüste, besteht nicht nur aus riesigen Flüssen, aus Sümpfen, Seen und Eis. Nein, Sibirien zeigt in seinen alten und neuen Städten die Lebenskraft dieses Völkergemischs hinter dem Ural. Es ist ein weiter Blick in die Zukunft. In die Zukunft des sicher einmal reichsten Landes der Erde.
    Die Sibirierin überrascht jeden Besucher. Sie ist meist ein schlankes, hübsches, lebenslustiges Weibchen. Französin der Taiga, so könnte man sie nennen. Sie besprüht sich mit grusinischem Blütenparfüm und legt großen Wert auf ein gutes Make-up. Abukow sah staunend die Mädchen, die aus den Büros, Geschäften, Lokalen, Schulen und Instituten kamen. Sie trippelten in wehenden, leichten, fröhlich bunten Kleidchen durch die Straßen, in hellblauen oder violetten Nylonstrümpfen, die sogar mit Blumenmustern verziert waren. Das Klick-Klack ihrer im italienischen Stil geschnittenen Schühchen mit den schwindelnd hohen Bleistiftabsätzen hörte man rundherum und schon von weitem auf dem Asphalt. Ihre Haare waren gepflegt, denn mindestens einmal in der Woche – das gehörte zum guten Ton – ging man zum Parikmacher, zum Friseur also, und diese Friseursalons sind große, auf das modernste eingerichtete Räume, mit Spiegelwänden und Marmor und viel Nippes, eine Wonne selbst für das luxusgewöhnte Auge einer Dame aus Berlin oder Hamburg oder Düsseldorf.
    Abukow blieb oft stehen, sah sich um, betrachtete seine Umgebung, blickte den Menschen nach, schaute in die Auslagen der Geschäfte und erkannte mit Schrecken: Das falsche Bild, das der Westen von Sibirien hat, trägt in großem Maße dazu bei, den gesamten sowjetischen Komplex falsch einzuschätzen.
    Das hier – Sibirien – war ein Pionierland. Aber ganz anders als damals der Wilde Westen der USA war es kein Land der Abenteurer und Eroberer, sondern wurde mit seiner Entdeckung Stück für Stück sofort in das 20. Jahrhundert integriert – ja, man spürte allerorts bereits greifbar das nächste Jahrhundert. Hier hinter dem Ural wuchs eine Kraft, entwickelte sich ein Potential – jung, frisch, stark, unverbraucht und belastbar –, dem die übrige Welt weder jetzt noch in der Zukunft etwas Gleichwertiges gegenüberstellen konnte. Was hier in Sibirien Schritt für Schritt dem jungfräulichen Land abgerungen wurde an Öl, Erdgas, Bodenschätzen, Wasserkraft, Diamanten, Gold, Holz und Boden unterm Pflug, durch Industrieanlagen, Forschungsstätten, riesige Stauwerke und künstliche Seen, das alles machte Rußland von Tag zu Tag souveräner gegenüber allen anderen Staaten der Erde.
    Abukow bummelte an den Schaufenstern vorbei. Es war unglaublich, was sich seinem Blick darbot. Da war ein Geschäft mit Perücken. Perücken in allen Farben und Schnittformen. Sogar mit so ausgefallenen Haarfarben wie Rosa oder Violett. Da gab es in anderen Geschäften moderne Damenkleider, Herrenregenmäntel im italienischen Schnitt, Anzüge mit engen, aufschlaglosen Hosen und in den neuesten Dessins, Schuhe in aktuellen Formen, Hüte, Handtaschen in den besten Ledern, Handschuhe in Kalb- und Schweinsleder, Nylonstrümpfe und zarte duftige Dessous – aber auch Bügeleisen, Staubsauger, elektrische Rasierapparate, Rundfunkgeräte, Fernseher, Küchenmaschinen, Mixer, Fotoapparate, Kaffeemaschinen, natürlich Samoware, Elektrokühlschränke und modernste Elektroherde.
    Wie angewurzelt blieb Abukow schließlich stehen, als er in einem der Schaufenster etwas völlig Unvorstellbares sah: Eine schlanke, langbeinige, kunstvoll frisierte Schaufensterpuppe, angetan mit einem bodenlangen, zauberhaften Abendkleid aus einem goldfädendurchwirkten, schimmernden Samtstoff. Und daneben die Puppe eines Mannes, der einen makellosen schwarzen Smoking trug, ein Hemd mit Satinstreifen, eine modische Fliege und schmale Lackschuhe. Umrahmt war dieses Paar von anderen Schaufensterpuppen mit schicken Kostümen und Kleidern. In Moskau oder Smolensk, Kiew oder Minsk hätten die Frauen vor diesem Fenster gestanden wie vor einem Wunderland – die Tjumerinnen gingen daran vorbei. Es war für sie selbstverständlich. Abukow betrat den Laden und sah sich um. An der Wand eine Samttapete, Vitrinen verteilt im Raum, bemalte

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