Ein Kreuz in Sibirien
Holzregale, eine Theke voller Gläser. Eine versteckte Klimaanlage verbreitete eine angenehme Kühle. Waren draußen fast 40 Grad Hitze, so konnte man hier fast frieren.
Zwei Verkäuferinnen kamen aus dem Hintergrund. Das Geschäft war leer, Abukow der einzige Kunde. Die Mädchen, hochgewachsen, schlank, stark geschminkt, mit feuerroten Lippen und Fingernägeln, selbstverständlich in Stöckelschuhen, umringten Abukow, als wollten sie ihn einfangen. Abukow schnupperte bewußt deutlich ihr starkes Parfüm und lächelte sie dann fröhlich an.
»Zunächst eins …«, sagte er etwas umständlich, »ich komme aus Kirow. Wißt ihr, wo das ist, Genossinnen? Wenn einer wie ich aus Kirow hierhin nach Tjumen kommt, macht er das Maul und noch mehr auf …«
»Bitte nicht mehr!« sagte eines der Mädchen frech. »Was soll's sein? Eine neue Hose? Oder gar ein neuer Anzug?! Bevor Sie anprobieren, Genosse: Bei uns fangen die Anzüge bei 180 Rubel an!«
Abukow verdrehte die Augen. Bei den Gehältern in Sibirien, die 150 Prozent über dem normalen Verdienst jenseits des Urals liegen, kann man solche Preise zahlen. Aber für einen einfachen Bürger aus Kirow, der im Monat gut und gern auf seine 250 Rubel kommt – und das ist schon ein Spitzenlohn –, sind 180 Rubel für Hose und Jacke geradezu ein Schock, und sei der Anzug noch so schön und modern in einem englischer Webqualität vergleichbaren Stoff.
»Bin ich ein Bojar?« rief Abukow. »Damals, die Bojaren, konnten sich das leisten. Wir in Kirow …«
»Was dachten Sie sich, Genosse?« fragte das andere Mädchen. »Vielleicht ein modernes Hemd? Jetzt im Sommer, ganz neu: italienische Markisenstreifen-Dessins …«
»Soll ich mich vor ein Fenster hängen?« rief Abukow. »Warum soll ich eine Markise tragen? Ihr lieben Püppchen – ist das da draußen in der Auslage ein Abendkleid?«
»Ja.«
»Und ein Smoking?«
»Ja.«
»Wer, um des Himmels willen, sagt es mir, trägt hier so etwas? Die hohen Genossen?«
»Wenig. Meistens die Künstler und Künstlerinnen. Für die Bühne, wissen Sie? Das Kleid im Fenster ist bereits verkauft, an eine Sängerin. Und der Smoking wird abgeholt von einem …«
»Lassen Sie mich raten!« schrie Abukow. »Von einem Sänger!«
»Nein, von einem Zauberkünstler.« Die Verkäuferinnen hatten ihr Interesse an dem kulturlosen Menschen aus dem fernen Kirow verloren. Ihre Kundschaft sah anders aus. Gerade in Tjumen gab es in der klassenlosen Gesellschaft Lenins eine ungeheuer fein abgestimmte ökonomische Skala für die soziale Einschätzung der Genossen. Fegten doch die einen die Straße, während die anderen in weißen Leinenanzügen auf der Uferpromenade entlang der Tura flanierten. »Was wollen Sie denn nun?« fragte das Mädchen ziemlich grob. »Kaufen oder nur dumm fragen?«
»Informieren«, antwortete Abukow. »Denken Sie an ein Wort Lenins, daß die Information in einem vom Volk getragenen Staat …«
»Hier ist kein Parteibüro, sondern ein Modegeschäft!« rief das andere Mädchen und riß die Ladentür auf. Ein lustiges Glockenspiel bimmelte. Abukow nickte traurig.
»So ist das nun«, sagte er wehmütig. »Da kommt man aus Kirow nach Sibirien in das gelobte Land, freut sich über alles wie eine Jungfrau auf den ersten Stich, und was erntet man? Einen Hinauswurf! Das ist nicht im Sinne des Fortschritts, Genossinnen.«
Er verließ das Modegeschäft, hinter ihm knallte die Tür zu, er hörte noch den Ausruf: »Welch ein Idiot!« Und dann stand er noch ein Weilchen vor dem Fenster und betrachtete Abendkleid und Smoking.
Das hätten wir nun alles, dachte er. Ich weiß, wo es Schminke und Perücken gibt, Abendkleidung und Stoffe, Schuhe und modisches Beiwerk. Ich habe ein Musikaliengeschäft gesehen mit Platten und Tonbändern und auch Noten. Auch einen Instrumentenladen gibt es in Tjumen. Was will man mehr? Die Gründung des Theaters kann beginnen. Nur zwei Dinge braucht man noch: das Wohlwollen von Oberstleutnant Rassim – und das Geld, um das ganze Material kaufen zu können. Oder staatliche Bezugscheine! Wenn die Bresche in Surgut geschlagen war, sollte man noch einmal mit dem freundlichen eleganten Genossen Kulturbeauftragter sprechen. Das hatte Abukow verstanden und behalten: Außer auf die technologische Entwicklung Sibiriens legte man nahezu genausoviel Gewicht auf die kulturelle Aufforstung des Landes. Technik und Kultur – das waren die Grundpfeiler der neuen Zeit.
Mittags aß Abukow in einem der neuen
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