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Ein Kreuz in Sibirien

Ein Kreuz in Sibirien

Titel: Ein Kreuz in Sibirien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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war ja schon immer ein Land der Spinner.
    Oberstleutnant Rassim wartete, bis alle Insassen der Baracken auf dem Appellplatz versammelt waren. Leutnant Sotow nahm die Meldungen der Blockältesten entgegen: Vollzählig! Drei Trupps kämmten daraufhin alle Baracken durch, um die Vollzähligkeit nachzuprüfen. Ein paarmal war es bei Probealarmen nämlich vorgekommen, daß Faulenzer einfach im Bett liegenblieben und behaupteten, sie seien krank geworden.
    Diesmal stand wirklich alles draußen in der warmen Nacht. Es gab nur einen Drückeberger, aber der konnte nachweisen, daß er nicht so schnell weggekommen war: Er saß auf dem Lokus und hatte Durchfall.
    »Meldung an den Genossen Kommandant!« sagte Leutnant Sotow, als die Trupps zurückkamen. »Alles angetreten!«
    Vor dem Lager hatte sich die Situation dramatisch zugespitzt. Man hatte den Toten ins Hospital getragen und dort einfach auf den Boden gelegt. Dr. Dshuban Kasbekowitsch, nach Parfüm duftend, das Seidenhemd bis zum Nabel aufgeknöpft, starrte voller Abscheu auf den Ermordeten und blickte hoch, als die Tschakowskaja im weißen Kittel den Gang entlanggelaufen kam. Sie hatte in aller Eile die Uniform angezogen, ihre Stiefel knallten über den Bretterboden.
    Auch Jachjajew war da, natürlich – er rang die Hände, starrte auf den Erstickten und bebte am ganzen Körper. Im Hintergrund stand Professor Polewoi, klein, weißhaarig, zart, und hatte die Hände gefaltet. Welch ein Fehler, dachte er. War es nötig, diesen Menschen zu töten? Das ist nicht nach Gottes Gebot. Kann man aber hier in Sibirien als Verurteilter überhaupt nach Deinen Geboten leben?
    Rassim, hochrot im kantigen Gesicht, war hereingestürmt und ging nun vor dem Toten hin und her. Abukow war einfach hinter ihm ins Hospital getreten, als gehöre er dazu, und stand etwas abseits neben der Leiche. Schaudernd sah er den Getöteten an. Der Anblick ließ auch den Hartgesottensten frieren. Tiefblau war das Gesicht angelaufen, die Augen quollen vor Entsetzen fast aus den Höhlen, die Finger waren zu Krallen verkrampft … mehrere mußten ihn festgehalten haben, als man ihm den Hühnerknochen tief in die Kehle rammte und ihn daran ersticken ließ; so sah es aus. Nun ragte das Ende des Knochens aus seinem Mund, hochgeschoben durch die dick angelaufene blaue Zunge, und es schien, als habe er in einem Anfall von Wahn dieses Hühnerstück ganz hinunterschlucken wollen. Abukow erinnerte sich an ein Foto, auf dem eine Riesenschlange an einer Gazelle erstickt war … das Hinterteil mit den Hinterläufen hatte noch aus dem weit gespreizten Schlangenmaul herausgeragt. Jetzt spürte er, wie Übelkeit in ihm hochkroch. Gleichzeitig lähmte ihn der Gedanke: Es ist ein Teil von meinen Hühnern, das sie zum Töten gebraucht haben! Ich bringe ihnen die Hoffnung auf ein Überleben … und sie morden!
    Rassim blieb ruckartig stehen und zeigte auf den Toten. Der Blick, der die Tschakowskaja traf, war wie ein Schlag.
    »Was ist das?« fragte er mit lauernder Ruhe.
    Verständnislos starrte Dshuban ihn an, aber die Tschakowskaja verstand den Angriff. Sie kniete neben der Leiche und betrachtete sie. »Ein Mann, der ein Huhn essen wollte und das nicht überlebte«, sagte sie ohne Hast.
    »Und das ist normal?« schrie Rassim plötzlich auf.
    »Was ist hier schon normal, Rassul Sulejmanowitsch?« Sie blickte hoch, und ihre dunklen Augen waren ungewöhnlich groß und rund. »Bei uns ist das Normale doch zum Abnormen geworden!«
    »Stellen Sie amtlich den Tod fest, Genossin! Die Todesursache.«
    »Erstickt an einem Hühnerknochen …«
    »Ermordet!« brüllte Rassim. »Ermordet mit einem Knochen, Genossin!«
    »Ich sehe als Arzt zunächst nur die Ursache des Todes.« Die Tschakowskaja erhob sich, strich sich durch das kurze Haar und bemerkte jetzt erst Abukow an der Wand. Ihr Gesicht verschloß sich sofort. Der kurze Blick, der ihn streifte, war heiß wie ein Blitzstrahl. »Genauen Aufschluß kann nur eine Obduktion geben …«
    »Bin ich denn blind?« schrie Rassim außer sich. »Mit Gewalt hat man den Knochen …«
    »Ich war nicht dabei«, unterbrach die Tschakowskaja kalt. »Genosse Owanessjan wird uns mehr sagen können. Der Chirurg ist er! Er wird obduzieren …«
    Dshuban Kasbekowitsch zog die Schultern hoch. Man konnte nicht sagen, daß er ein Chirurg aus Berufung war, einer jener Besessenen, die am eröffneten Menschenkörper den Tod verjagen; vielmehr war er Chirurg geworden, weil er sich beim Studium der Medizin in

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