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Ein Kreuz in Sibirien

Ein Kreuz in Sibirien

Titel: Ein Kreuz in Sibirien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Tiflis in seinen hellblonden Dozenten verliebt hatte, und der war nun einmal eine Kapazität im Bereich der Thoraxchirurgie. Zufrieden fühlte sich Owanessjan nie in seinem blutigen Beruf. Im normalen Leben wäre er über einen kleinen Assistenten nicht hinausgekommen, und auch da hätte man ihn nur zum Klammersetzen oder Nadelhalten ermuntert, nie zu einem eigenen Schnitt – aber hier im Lager war man froh, daß es einen Arzt gab, der Brüche schienen konnte, Furunkel spalten und Wunden nähen. Gab es einen kritischen Fall, etwa einen Magendurchbruch, einen perforierten Appendix oder gar einen Gallenstein mit Gallengangverschluß – der Mediziner nennt das stolz Choledocholithiasis, ein Wort, das Dshuban mit Wonne auswendig gelernt hatte und fast singend von sich gab, wann immer es angebracht war –, dann wurde der Kranke sofort nach Surgut überwiesen. In dem Krankenhaus, das man wegen der Pipeline neu eingerichtet hatte, arbeiteten Spezialisten, die sich ab und zu wunderten, warum der Facharzt für Chirurgie, Dr. Owanessjan, sogar einfache Fälle, wie etwa einen Blasenstein, nach Surgut weiter transportierte. Nur eins behielt sich Dshuban vor, ja, er stürzte sich mit geradezu heiligem Eifer darauf: die Amputationen! Wo Füße, Beine, Hände, Arme gequetscht oder durch Unglücksfälle stark verletzt waren, blühte Dshuban auf, zog seinen grünen OP-Kittel an, schnallte die Gummischürze um und pfiff ein fröhliches Lied. Lästerhafte Mäuler behaupteten sogar, man habe ihn beobachtet, wie er vor einer Amputation das große Amputationsmesser und die Knochensäge geküßt habe.
    Auf jeden Fall hieß es im Lager: Und wenn du deinen Arm oder dein Bein an einen Pfahl bindest und herumschleppst … du hast sie noch! Kommst du aber zu Dshuban, bist du nur noch ein halber Mensch.
    Einen wahren Ekel indessen empfand Dr. Owanessjan vor Obduktionen. Sie waren manchmal nicht zu vermeiden. Außerdem lernte er an den wehrlosen Toten. Wenn er ein paar Gläser grusinischen Kognak getrunken hatte und Feuer durch seine Adern rauschte, nahm er sogar an den Leichen komplizierte Magen- oder Lungenoperationen vor. Einmal wagte er sich sogar an eine schwierige Herzoperation, die im täglichen Leben für ihn über den Sternen lag – an der Leiche und nach zehn Kognaks war sie ihm glänzend gelungen, und er war darüber so selig, daß er am nächsten Tag keine Arbeitsunfähigen zur Trasse schickte. Es war ein Festtag der Krankschreibungen. Kommandant Rassim war an diesem Morgen ehrlich verwirrt, bölkte Dshuban Kasbekowitsch an, aber der Arzt sagte nur: »Ich muß es verantworten!« und ließ den schnaubenden Rassim stehen.
    »Warum obduzieren?« fragte er jetzt voller Abwehr. »Jeder sieht doch, daß der Tote …«
    »Ich will einen Mord bestätigt haben!« brüllte Rassim und schlug die dicken Fäuste gegeneinander. »Ärztlich bescheinigt: Hier wurde getötet!«
    »Wichtiger erscheint mir die Lösung der Frage«, sagte nun zum erstenmal Jachjajew und trat näher, »woher die Hühner kommen. Im Lager gab es heute Kartoffelsuppe … ich nehme nicht an, daß darin die Hühnerchen herumschwammen. Außerdem ist das Huhn, das dem Toten in der Kehle steckt, gebraten, wie man sieht – nicht gekocht! Das ist doch eine Grundsatzfrage, Genosse Kommandant: Wie kommt ein gebratenes Huhn in das Lager?«
    Die Tschakowskaja blickte schnell hinüber zu Abukow. Er verstand diesen Blick und schüttelte fast unmerklich den Kopf. Auch Professor Polewoi hatte bei dieser Frage Abukow scharf beobachtet. War das die Falle gewesen, in die sie alle hineingetappt waren? War der Tote – er hieß Matwej Kusmanowitsch Poljakow und arbeitete in der Schmiedewerkstatt; ein Krimineller, der aus Nowgorod kam und dort dreimal Lastwagen überfallen hatte – vielleicht gar nicht von den Freunden getötet, sondern von Abukow selbst geopfert worden, um dadurch die verschworene Gruppe innerhalb des Lagers entlarven und aufrollen zu können? Nun schüttelte Abukow den Kopf … das beruhigte Polewoi nicht sehr, aber er erkannte, daß Abukow die Zusammenhänge genau verstand.
    »Die Hühnerbraterei werden wir aufklären, Mikola Victorowitsch«, sagte Rassim laut. »In diesem Augenblick tritt das ganze Lager an.« Das Gellen der Sirenen war durch Fenster und Wände deutlich zu hören. Mit beiden Händen zeigte Rassim auf den Toten: »Ich will Ihnen helfen, Dr. Owanessjan. Der Mann, der da liegt, war ein treuer Genosse. Er wollte uns melden, daß man im Lager heimlich Dinge

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