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Ein Kreuz in Sibirien

Ein Kreuz in Sibirien

Titel: Ein Kreuz in Sibirien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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dieser Sonne! Was für ein Anblick … Der Saft tropfte über Achsen und Räder, und es stank einen halben Werst voraus, als der Wagen ins Lager fuhr. Ein einziger Matsch, die schönen Birnchen. Ha, da hättest du Rassim sehen sollen! Wie der Satan hat er getobt, und der arme Genosse Fahrer schrie immer wieder zurück: ›Macht mich nicht dafür verantwortlich! Ich fahre bloß. Mit dem Verladen habe ich nichts zu tun. Das ist eine andere Brigade. Meine Aufgabe ist: Abliefern der Ladung in Nowo Wostokiny. Habe ich das nicht korrekt getan, Genossen? Kann ich dafür, daß die Birnen ein Matsch sind? Wendet euch an die Verlader. Mein Befehl lautet nur: Bring die Ware hin! Was wäre in der Welt los, wenn wir für alles verantwortlich sein müßten? Also – hier ist die Ladung Birnen! Wer räumt ab?‹ – Hat das ein Gebrüll gegeben! Rassim befahl, den Wagen in die Luft zu sprengen, aber natürlich hat das keiner getan. Was kann das Wägelchen dafür, daß es faulende Birnen trägt? So ist das nun mal mit der Planwirtschaft. Wer sich wundert, hat viel Zeit. Aber da bin ich gekommen.« Mustai klopfte gegen seine Brust. »Bevor ihr die Birnen auf den Mist kippt, habe ich gesagt, sprecht mit mir. Keiner will sie haben, heimatlos sind sie – ich nehme sie zu mir. Steht etwas dagegen? Und der Fahrer sagte: ›Erwähne das Wort Birnen nicht mehr. Keinen Ton mehr davon. In drei Stunden bin ich wieder weg aus eurem Höllenloch. Lieber im Wald schlafen als bei euch!‹ Ja, und nun sind die Birnen hier, gestampft zu Mus, und gären vor sich hin. Einen Birnenschnaps werde ich daraus brennen, daß dir bei jedem Schlückchen die Hose beult! Rassim hat es erlaubt. Ich warte nur noch auf den Brennapparat. In der Schmiede bauen sie ihn zusammen.«
    »Ich sehe, du hast eine Sonderstellung«, sagte Abukow.
    »Dafür bin ich ein Idiot.« Mirmuchsin grinste breit. »Und jetzt sollst du Allah sehen.« Er schob einen wandhohen, schmalen, weiß lackierten Schrank zur Seite. Es war ganz leicht, er lief auf unsichtbaren Rollen. Niemand hätte geglaubt, diesen Schrank so einfach wegschieben zu können.
    Hinter dem Schrank hatte Mustai einen kleinen alten Gebetsteppich an die Wand genagelt mit dem typischen Motiv der Gebetsnische. Das war alles, aber für Mustai ersetzte es die riesige, mit den herrlichsten Kacheln verkleidete Medresenmoschee von Samarkand.
    »Ich bin glücklich, das gesehen zu haben, Mustai Jemilianowitsch«, sagte Abukow mit bewegter Stimme. »Du wirst im Theater eine eigene Nische bekommen, wo du deinen Teppich hinlegen kannst.«
    Mustai umarmte Abukow, küßte ihn dreimal und schob dann seinen Schrank wieder vor Allahs geheime Wand. Sie verließen die Werkstatt und setzten sich nebenan auf die Betten in Mirmuchsins Wohnung. Die Marschmusik aus den Lautsprechern draußen dröhnte auch zu ihnen hinein, sie war überall und lag wie ein vibrierendes Dach über der ganzen Gegend. So gesehen bestrafte Rassim alle, auch sich selbst, denn für den Schlaf fehlte die Stille.
    »Was kann man tun?« fragte Abukow nach einer Weile. Mustai hatte in zwei großen Tonbechern duftenden kalten Kwaß gebracht.
    »Wo willst du was tun?« Mustai blickte zum Lager hin. »Ihnen helfen? Unmöglich.«
    »Sie werden einer nach dem anderen umfallen. Es wird vielleicht sogar Tote geben.«
    »Wie ein welkes Blatt wird man sie ansehen, dann lädt man sie auf einen Karren und fährt sie weg zu der Rodung, wo sie begraben werden. Namenlos. Nur auf der Liste steht der Name, und den streicht man durch. So einfach ist das.« Mustai schüttelte den Kopf. »Nein, helfen kannst du jetzt nicht. Dein Gott und mein Gott sind schwach gegen Rassim.«
    »Nicht lange mehr!« sagte Abukow mit einem feierlichen Ton in der Stimme. Er war so voll Kraft, daß Mustai zusammenzuckte. »Das schwöre ich dir, Mustai Jemilianowitsch – ich werde dieses Leben am Rande der Menschlichkeit erträglicher machen!«
    »Welch großes Wort!« Mustai winkte ab und nahm einen langen Schluck Kwaß. »Victor Juwanowitsch, du wirst es nicht einlösen können …«
    Drei Stunden standen die Sträflinge, und noch war keiner umgefallen.
    Sie standen vier Stunden, und neun zerlumpte Gestalten knieten in den Reihen und pumpten keuchend die Luft in ihre Lungen. Die neben ihnen Stehenden faßten sie unter die Achseln, rissen sie wieder hoch und hielten sie fest.
    Den Kopf hoch, Brüderchen. Die Augen zu den Maschinengewehren. Die Muskeln zittern, die Adern brennen, die Knochen glühen … Denk an

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