Ein Kreuz in Sibirien
Rassim hielt sie fest und drückte sie hoch.
»Genossin …«
»Lassen Sie mich los!« zischte die Tschakowskaja. Von einer Sekunde zur anderen hatte sie sich verändert. Ihre schrägen Augen glühten, die Lippen waren ein messerdünner Strich, ihre Stimme war schneidend geworden. »Sie belästigen einen Kapitän der Roten Armee!«
»Ein Wunder: Die Tschakowskaja besinnt sich darauf, im soldatischen Dienst zu stehen!« Rassim ließ sie sofort los und knirschte mit den Zähnen. »Seit acht Stunden sind Sie auf den Beinen? Legen Sie sich hin!«
»Erst wenn der letzte Mann, der Hilfe braucht, versorgt ist.«
»Wo ein Ermordeter ist, ist auch ein Mörder. Auf ihn warte ich – und so lange wartet das ganze Lager mit!«
Sie hob die Schultern, als wolle sie andeuten, das ist dein Problem, ging um Rassim herum und winkte wieder den beiden Trägern. Zögernd kamen sie näher, die Trage zwischen sich, immer darauf wartend, daß Rassim sie anbrüllte und wegjagte. In der zweiten Reihe des III. Blockes, vor dem er stand, fielen wieder drei Männer um. Die Sonne hatte sich nun voll über die Wälder geschoben und schleuderte ihren gleißenden Brand auf die Jammergestalten. Rassim wandte sich ab. Er konnte das Würgen nicht mehr zurückdrängen.
»Achten Sie auf Ihren Schritt, Genosse Kommandant!« sagte die Tschakowskaja verkniffen. »Es wäre unter Ihrer Würde, sich mit Häftlingsscheiße zu besudeln …«
Rassim schwieg. Wenn Larissa Dawidowna ihren fraulichen Charme verlor und ordinäre Ausdrücke gebrauchte, war es sinnlos, weiter mit ihr zu sprechen. Er kannte das nun seit langem: Zum erstenmal hatte er es erfahren, als er – die Tschakowskaja war gerade drei Wochen im Lager und richtete ihre Wohnung ein – des Nachts einfach in ihr Zimmer kam in dem Glauben, einem Kerl wie Rassul Sulejmanowitsch könne keine Frau widerstehen. Es war gut geheizt im Raum, Larissa Dawidowna lief herum in einem knappen rosa Höschen und einem schmalen Spitzenbüstenhalter. Was Wunder, daß Rassim mit der Zunge schnalzte und mit einer schmerzhaften Schwellung zu kämpfen hatte.
»Wer nicht das Schlüsselchen im Schloß dreht, muß damit rechnen, geöffnet zu werden!« rief er fröhlich und zweideutig. Aber zu weiteren Auslassungen kam er nicht, denn die Tschakowskaja schleuderte ihm einen Hammer, mit dem sie gerade einen Bildernagel eingeklopft hatte, nahe am Kopf vorbei – dann griff sie nach einem langen Messer und hielt es ihm entgegen.
»Komm her, du Bock!« sagte sie. Ihre Augen glitzerten dabei; sie sah wie ein Zauberwesen aus dem Märchen aus. Nur das Messer, das in ihrer Hand wippte, störte das schöne Bild. »Ein kleiner Schnitt, und du bist für alle Zeit befreit!«
Natürlich hatte es Rassim auf dieses Duell nicht ankommen lassen. Aber bevor er das Zimmer verließ, hatte er noch allerlei Beschimpfungen über sich ergehen lassen müssen, wobei Bastardschwengel und Hurenlümmel noch die vornehmsten Ausdrücke waren. Von da an vermied er es, Larissa Dawidowna, die nur auf den ersten Blick so zart erschien, bis in die Seele zu reizen. Man sprach nur noch dienstlich miteinander. Und wenn es wirklich einmal zu einem privaten Plausch kam, erzählte man von Büchern oder Schallplatten.
Jetzt wartete Rassim, bis die beiden Träger den Ohnmächtigen auf die Trage gelegt hatten. Er hinderte sie auch nicht daran, daß sie fortliefen, zum Tor hinaus, zum Hospital, wo sie auf die anderen Tragen stießen, die Rassim gestoppt hatte und die noch immer auf weitere Befehle warteten. Zu allem Unglück erschien jetzt auch noch Dr. Owanessjan, fröhlich, beschwingten Schrittes, einem erfrischenden Bad entstiegen, eingecremt und parfümiert. Auch Abukow und Mustai standen im Tor und sahen erschüttert auf das höllische Bild.
Dshuban Kasbekowitsch prallte vor dem Gestank, gegen den er wie gegen eine Mauer lief, entsetzt zurück, zog ein seidenes Taschentuch aus dem Rock und drückte es gegen sein Gesicht. Die Tschakowskaja winkte ihm zu, aber er reagierte nicht darauf. Seine ästhetische Seele versank in Übelkeit.
Von den 1.200 Häftlingen standen zu dieser Stunde noch knappe vierhundert. Die Sonnenglut brannte sich in ihre ungeschützten Köpfe, während aus den Lautsprechern der Chor der Rote-Armee-Garnison von Smolensk zu hören war. Er sang frische Volkslieder, vom ›Reiter in der Steppe‹ bis ›Mein Mädchen Olga hat ein rotes Kleidchen …‹.
Rassim wandte sich ab, ging hocherhobenen Hauptes zum Tor zurück und winkte
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