Ein Kreuz in Sibirien
Hospital auf und hielt den Transport der fünf Tragen mit den vom Staub überzogenen Zusammengebrochenen auf. »Zurück!« brüllte er. »Sofort zurück! Wollt ihr wohl ins Lager laufen! Wollt ihr hineingepeitscht werden?«
Die Krankenträger stellten die Tragen ab und blieben stehen. Sie blickten an Rassim mit stierem Blick vorbei ins Leere.
»Das ist eine Revolte!« keuchte Rassim und lief blutrot an. »Ha! Das ist nun wirklich eine Revolte! Jetzt gilt das Ausnahmegesetz!« Er stürmte weiter, stieß eine Gruppe Offiziere am Tor zur Seite und stürzte brüllend in den Halbkreis der Soldaten. Ein unbeschreiblicher Gestank schlug ihm entgegen. Da niemand sich von seinem Platz rühren durfte und nur das Umfallen gestattet war, hatte man im Laufe der langen Stunden den letzten Rest von Scham und Würde verlieren müssen. Wer sein menschliches Bedürfnis nicht mehr zurückhalten konnte, der riß seine Hose auf oder ging in die Hocke.
Rassim hielt die Luft an. Er starrte auf das schreckliche Bild, sah die gelben Gesichter seiner Maschinengewehrschützen, die dieser Höllenvision am nächsten standen, und verfolgte sprachlos die Tschakowskaja, die ungerührt, scheinbar gefeit gegen alles Grauen, von Mann zu Mann ging, ihn abhörte, den Puls fühlte und dann laut rief: »Hospital!«
»Oberleutnant Lyssikow!« schrie Rassim und spürte ein Würgen im Hals, denn beim Schreien mußte man Luft holen und den unerträglichen Dunst einatmen. Gleichzeitig winkte er zu den drei Maschinengewehren. Die Schützen rissen die schweren Waffen hoch und rannten im Laufschritt weg aus der unmittelbaren Zone des Grauens. Allein blieb Rassim stehen. Lyssikow flitzte heran und baute sich vor ihm auf.
»Genosse Kommandant!«
»Wer hat erlaubt, daß die Genossin Ärztin durch die Reihen geht und selektiert?«
»Sie selbst hat es sich erlaubt.« Lyssikows Nasenflügel blähten sich. Jetzt wird sich's zeigen, ob die Tschakowskaja nachgibt, dachte er. Du guter Himmel, was wird, wenn sie auch Rassim eine Ohrfeige androht? Es ist anzunehmen, daß er sie auf der Stelle erschießt. Wie war das vor zwei Stunden mit dem Genossen Jachjajew. Der kam ans Tor, starrte auf die Ärztin und rief ihr zu: »Was Sie da tun, Larissa Dawidowna, ist Sabotage!« Und was hatte sie zurückgerufen? »Kümmern Sie sich um Ihre eigene Tür, Jachjajew. Da liegt der Dreck zu Haufen!« Daraufhin war der Kleine fast in die Luft gesprungen und abgewetzt.
»Wer hat hier das Morgenkommando?« schrie Rassim und ballte die Fäuste.
»Mir wurden öffentliche Ohrfeigen angedroht, Genosse Kommandant. Im Interesse der Offiziersehre hielt ich es für klüger, es darauf nicht ankommen zu lassen.«
»Sie … sie wollte Ihnen …«, keuchte Rassim und ließ seine Augen rollen.
»Ja.«
»Genossin Tschakowskaja!« brüllte Rassim.
Larissa Dawidowna hob den Kopf, wechselte einen kühlen Blick mit Rassim und winkte ab. Sie beugte sich über einen Ohnmächtigen, zog ihm das schmierige Hemd von der eingefallenen, knöchernen Brust und setzte das Stethoskop auf.
Rassim zögerte zwei Sekunden. Hinter ihm, von der Seite und vor ihm starrten Hunderte von Augen auf ihn. Seine Macht bekam einen nie mehr zu schließenden Riß, wenn er jetzt nicht so handelte, wie es alle von ihm erwarteten.
Er überwand den Ekel, der seinen Magen in einen Kreisel verwandeln wollte, drückte viel Kraft in seine Beine und stapfte auf die Häftlinge zu. Als er die ersten Reihen erreicht hatte, fielen wieder drei Männer um.
Sofort war die Tschakowskaja da und kniete sich neben einen der Ohnmächtigen, untersuchte ihn kurz und rief hell: »Hospital!«
»Nein!« sagte Rassim gepreßt.
»Wenn Sie es schon als Ihre Aufgabe betrachten, wertvolle Arbeitskraft sinnlos zu zerstören«, erwiderte sie völlig ruhig, »so ist es meine Pflicht, dafür zu sorgen, daß die ausgefallenen Männer so bald wie möglich wieder einsatzfähig sind.«
Rassim wölbte die Unterlippe vor. O je, dachte er. Was bist du doch für ein Teufelchen, Larissa Dawidowna! Laut sagte er: »Wie lange stören Sie hier schon?«
»Von Beginn Ihrer Aktion an …« Die Tschakowskaja erhob sich und winkte den beiden Trägern, die unschlüssig am Tor warteten. Voll Angst, von Rassim in den Strafblock gesteckt zu werden, rührten sie sich nicht von der Stelle.
»Gehört es zu Ihren Vergnügungen, Rassul Sulejmanowitsch, daß ich den Mann mir selbst auf die Schulter lade und abschleppe? Die Freude gönne ich Ihnen …«
Sie bückte sich, aber
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