Ein Kreuz in Sibirien
Sollen diese ausgetrockneten Lappen auch nur ein Steinchen hochheben?« Vom Fenster ihres Untersuchungszimmers im Hospital beobachtete die Tschakowskaja, wie sich Abukow und Novella Dimitrowna begegneten und wie die kleine Hure – so nannte sie sofort die Tichonowa – Victors Hände auf ihre Brüste drückte. Aha, so muß man es machen, dachte sie mit Bitterkeit und aufsteigender Wut. Sich anbieten wie ein Bissen Honigkuchen.
Seit einer Stunde war sie wieder im Hospital und überwachte die Behandlung der vom Lagerplatz abtransportierten Sträflinge. Polewoi und neun Krankenpfleger bemühten sich um sie. Das Knattern des Hubschraubers hatte Larissa ans Fenster gelockt, und nun sah sie, wie dieses Mädchen mit dem kurzen Rock, der dünnen Bluse und den hohen Stöckelschuhen so völlig ohne Scham sich Abukow anbot.
Die Tschakowskaja trat vom Fenster zurück und zog ihren Uniformrock an. Sie wollte das fremde Hürchen besichtigen. Es war ihr, als wenn jedes Wort, das sie dachte, in ihrem Hirn knirschte. Soweit kommt es noch, dachte sie wütend und voller Eifersucht, daß du Abukow zu verführen versuchst.
Nicht hier! Nicht unter meinen Augen! Abukow ist ein Priester, du angemaltes Ferkelchen – aber das weißt du nicht und wirst es nie erfahren. Nimm die Krallen von ihm, Kätzchen! Wenn wir sündigen wollen, dann ist das mein Paradies!
6
Morosow war ein Mensch, der wenig sprach, aber um so mehr nachdachte. Seitdem er von Perm zunächst nach Kungur und dann nach Tjumen versetzt worden war – immer verantwortlich für eine große Streckenführung der Gaspipeline –, wunderte ihn nichts mehr, als er den Abschnitt Surgut übernommen hatte, dieses Höllengebiet aus Urwald und Sumpf, Tausenden kleinen Taigaseen und ebenso vielen kleinen Wasserläufen. Ein Land, das die Jäger liebten, bevor die Techniker und Arbeiter kamen und es verfluchten. Überall Wasser, Wald und Sumpf. Wenn nach den langen, harten Wintern endlich der Schnee schmolz, konnte er nur über unzählige Bäche in den wild verzweigten Ob oder die Protaka Tuganskaja abfließen. Zum großen Teil sammelte sich das Wasser in den Seen, oder es versumpfte das Land. In den Boden absickern konnte es nie – denn nach 50 Grad Kälte blieb der Frost permanent im Boden. Es taute nur die Oberfläche auf. Höchstens vierzig Zentimeter vermochte die Sommerwärme einzudringen, dann traf sie auf einen Eispanzer, den niemand mehr zersprengen konnte.
Hier griff der Mensch mit Dynamit ein, fetzte die Erde auf, um die Erdgasrohre versenken zu können. Oft aber, über Tausende von Kilometern hinweg, von Yamal und Urengoy bis zu den großen Umschlagpumpstellen von Tjumen und Tawada, resignierte auch der Mensch und verlegte die Gasleitung über dem Boden. Eine gigantische Schlange mit Stützpfeilern und Stoßdämpfern, einer in sich schwingenden Basis und Kühlelementen an jedem Pfeiler; denn nun mußte man umgekehrt denken: Kam die Sommerhitze, mußte der Boden unter der Gasleitung vereist werden, um ein Absinken und damit Durchbrechen der schweren Rohre in sumpfig werdenden Boden zu verhindern.
Morosows Aufgabe als Chefingenieur war es, alle diese Schwierigkeiten zu überwinden und die Pipeline termingerecht nach Plan durch Taiga und Sumpf zu führen, über Flüsse hinweg und über das verfluchte Seengebiet. Das bedeutete den harten, von vielen Enttäuschungen begleiteten Kampf der Technik gegen ein Land, das noch nie eines Menschen Fuß betreten hatte, mit Ausnahme der nomadisierenden Pelztierjäger auf ihren Reitrentieren.
Morosow hatte ein Heer von Arbeitern und Maschinen zur Verfügung, modernste Schwimmbagger und Sumpfraupen, Ungeheuer von Bulldozern und Erdschauflern, schwere Lastwagen und Geschwader von Hubschraubern. Ihm unterstanden Ingenieure und Techniker, Facharbeiter und Spezialisten aller Baurichtungen – aber sie alle wären ständig in Verzug oder überhaupt nicht von der Stelle gekommen ohne den Einsatz der kostenlosen Ameisen: der Strafgefangenen. Im strengen Winter nutzte kein Bulldozer mehr; ab 20 Zentimeter Bodenfrost packte die schärfste Zahnschaufel nicht, kippten an Abhängen die Caterpillars aufs Dach, standen die riesigen Schaufelbagger hilflos herum, die nur Erde bewegen, aber keinen Dauerfrostboden aufreißen konnten. Da gab es nur eine einzige Rettung: Sträflinge marschierten heran, wie seit Jahrhunderten mit Brecheisen, Spitzhacke und Schaufeln bewaffnet. Jetzt mußten sich die Jammergestalten in das ewige Eis wühlen, sie sprengten die
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