Ein Kreuz in Sibirien
und jetzt? Schlägt Fichten- und Zedernstämme in der Taiga oder trägt Bahnschwellen von den Waggons zur Baustelle. So schnell kann sich ein Leben in Rußland ändern – einer einzigen Bemerkung wegen.
»Sie sehen das völlig falsch, Wladimir Alexejewitsch«, sagte Jachjajew warnend zu Morosow. »Keine Helden sind das, sondern erbärmliche Halunken. Bringen einen treuen Mann um und haben hinterher nicht mal den Mut, für diese Tat die Verantwortung zu übernehmen. Feiglinge alle, auch wenn sie ihre Mäuler zukneifen und umfallen. Außerdem gewinnen sie einen arbeitsfreien Tag …«
»So kann man es auch sehen, Genosse Jachjajew.« Morosow stülpte die Unterlippe vor, als wollte er den Kommissar anspucken. Dann blickte er auf den noch immer in der Tür wartenden Rassim und betrat die Kommandantur. In Rassims Zimmer waren sie allein; da Rassul Sulejmanowitsch keinen aufgefordert hatte mitzukommen, war ihnen auch niemand gefolgt. Rassim setzte sich in seinen Ledersessel, spreizte die Beine, stützte die Hände auf seine Schenkel und saß da wie ein Tyrann auf seinem Thron. Morosow bot er keinen Stuhl an – er liebte es, anderen Menschen das Gefühl zu vermitteln, eine völlig unwichtige Person zu sein, ein klägliches Wesen vor dem großen Rassul.
Morosow empfand es nicht so. Er lehnte sich neben der Tür gegen die mit einer kitschigen Tapete bespannte Wand – bunte Sommerblumen und blühende Gräser auf blauem Grund – und steckte die Hände in die Hosentasche. Das ärgerte Rassim maßlos, aber er wartete zunächst ab.
»Kann man uns hier hören?« fragte Morosow.
»Nein.« Rassim hob die Augenbrauen. Sein turkmenisches Gesicht war wie aus Stein. »Wäre es unangenehm?«
»Für Sie bestimmt, Genosse Kommandant.«
»Oha! Eine versteckte Drohung, Wladimir Alexejewitsch?«
»Nur Feststellungen. Sie sabotieren den Arbeitsablauf an der Pipeline.«
»Man sollte Worte erst überlegen, ehe man sie ausspricht«, sagte Rassim mit erstaunlicher Ruhe. »Draußen am Bau bestimmen Sie, Genosse Morosow – hier bin ich der Kommandant. Was Sie auch sagen möchten: Es ist schade um die Luft, die Sie ausstoßen und verbrauchen. Ich habe einen Mord im Lager, und den wischen Sie nicht weg mit Ihrem Plansoll. Ich handele präzise und auf dem Boden des Gesetzes.«
»Sie sind dabei, 1.200 Menschen arbeitsunfähig zu machen.«
»Nur einen Namen brauchen sie zu nennen, dann normalisiert sich alles wieder. Aber sie stehen da, kneifen den Mund zusammen, verdrehen die Augen, lassen sich in den Dreck fallen. Das ist stumme Revolte. Soll ich etwa nachgeben – ich, Rassul Sulejmanowitsch? Das kann niemand verlangen, am allerwenigsten Sie.«
»Die Zentrale in Moskau wird es verlangen.«
Rassim zog den Kopf ein. Moskau war weit, aber trotzdem überall. Ihm war klar, daß dieser Vorfall im fernen Surgut in der Zentralverwaltung des GULAG vielleicht so ernst genommen werden würde, daß man eine Untersuchungskommission an den Ob schickte. Das wiederum würde bedeuten, daß man vieles entdecken konnte, was nicht ganz den Richtlinien einer Lagerführung entsprach. Das war zum Beispiel der heimliche Kurierdienst zwischen dem Lager 451/1 und dem Frauenlager im Wald, der die hübschesten und noch kräftigsten Mädchen für jeweils ein paar Stunden herbeischaffte, um das Herz der Offiziere zu erfreuen. Das allein würde genügen, um in Moskau den Namen Rassim auf der Personalliste rot zu umranden.
»Sie wollen also eine Meldung machen?« fragte er grollend.
»Ich muß es, Genosse.«
»Wieso müssen Sie?«
»Mir fehlt jetzt ein ganzer Tag vom Plansoll. Und ich befürchte, es werden mehrere Tage werden, ehe die Arbeitsbrigaden vom JaZ 451/1 wieder voll einsatzfähig sind. Wie soll ich das verzeichnen in meinen Listen? Wie kann ich das verantworten?!« Morosow wiegte den Kopf, als überdenke er ein schweres Problem. »Sie müssen unbedingt Ihren Mörder finden – ich muß meine Termine einhalten. Jeder korrekt auf seinem Gebiet, so soll's doch sein, nicht wahr? Ich komme ins Stocken, also muß ich das melden! Die Notwendigkeit sehen Sie doch ein?«
»Und wenn wir uns verständigen, Genosse Morosow?«
»Wo soll das hinführen? Sie haben einen harten Schädel, Rassim – und ich einen aus Stahl. Das wissen Sie nur noch nicht. Uns beiden täte es gut, das nicht auszuprobieren.«
»Also doch eine Erpressung!« schrie Rassim.
»Nur Ehrlichkeit, Genosse Kommandant.« Morosow lächelte verhalten. Wenn er könnte, dachte er, würde er mich
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