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Ein Kreuz in Sibirien

Ein Kreuz in Sibirien

Titel: Ein Kreuz in Sibirien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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dich verschlucken.
    Morosow trat hinaus auf den großen Platz vor der Kommandantur und blickte hinüber zum Lagertor. Rassim mußte per Telefon ein Kommando gegeben haben, denn ein Zug Militär rückte ins Lager ein, die Musik aus den Lautsprechern brach ab, dafür ertönte eine Stimme: »Alles wegtreten! Zurück in die Baracken!« Dann knackte es wieder, und die Musik begann von neuem, über das Lager zu plärren. Die Romanze für Violine von Beethoven, gespielt von David Oistrach.
    Morosow wischte sich mit beiden Händen über das schweißnasse Gesicht, schüttelte sich, als sei er ein Hund, der aus dem Wasser kommt, und eilte mit langen Schritten zu dem Lagertor.
    Morosows junge Sekretärin Novella Dimitrowna hatte den Anblick der gequälten Sträflinge nicht ertragen können. Abukow bemerkte, wie sie fast in Ohnmacht fiel, und führte die völlig Entsetzte weg vom Lager. In diesem Augenblick erreichte die vom Hospital herbeigeeilte Larissa Dawidowna Tschakowskaja die beiden.
    Die Ärztin keuchte etwas von dem schnellen Lauf. Schweißperlen glitzerten auf ihrer Stirn, auf dem schmalen Nasenrücken und auf der Oberlippe. Der heiße Tag hatte sich nun voll entfaltet; wolkenlos und blaßblau war der Himmel, an dem die Sonne klebte wie ein gleißendes Brennglas.
    Larissa Dawidowna atmete ein paarmal tief durch. Abukow kam, die Tichonowa an sich gedrückt, direkt auf sie zu. Der Blick aus Larissas Augen verhieß nichts Gutes. Strichdünn waren ihre Lippen. Und die Backenknochen drückten sich spitz durch die Haut. Sie musterte Novella Dimitrowna wie eine Stute, die auf dem Marktplatz zum Verkauf steht; es war ein beleidigender Blick voll abschätzender Hochmütigkeit. Dann sah sie Abukow an, als wollte sie ihn fragen: »Was bist du nun – ein Priester oder ein Mann?«
    »Hat zarte Nerven, wie man sieht«, sagte sie laut und voller Angriffslust. »Kommt da herangeflogen und denkt vielleicht, hier gäbe es ein fröhliches Tänzchen. Man macht sich hübsch mit Schminke und Puder, Stöckelschuhen und luftigen Kleidchen wie zu einem Landausflug, bei dem man die Männer aufreizen kann. Sehen wir uns doch mal die Sträflinge an, meine Lieben! Ein Blick in den großen Käfig. Kein Zoo ist interessanter, sag ich dir … was soll's auch, einen Löwen kennt man, einen Elefanten, ein Kamel, einen Büffel, ein Nilpferd – aber hier hast du etwas Besonderes vor dir, was man nicht alle Tage besichtigen kann. Ha! Sieh dir dort den Mann an! Wankt herum wie ein Betrunkener, torkelt in den Knien, kann sich kaum bewegen vor Hunger und Schwäche – nein, ist das schön! Und der da, zum Brüllen ist's, drückt eine Schubkarre vor sich her, und drinnen liegt ein anderer Mensch, und aus seinem offenen Mund dringt lautes Stöhnen. Welch ein Spielchen! Und da, zwischen den Baracken, fegen mit Fetzen bekleidete Gerippe die Erde mit Reisigbesen. Sag ich es nicht: Lustiger geht's zu als bei den Affen!«
    Novella Dimitrowna starrte mit weiten, kindlichen Augen auf die Tschakowskaja, plötzlich würgte sie und krümmte sich nach vorn. Abukow mußte sie mit beiden Händen festhalten.
    »Mir ist schlecht«, stammelte sie. »Oh, schlecht ist mir! Der Magen kommt mir nach oben.«
    Die Tschakowskaja musterte sie wieder mit einem harten Blick. Das dünne Blüschen, das die Brust hindurchscheinen ließ; der kurze Rock, die Schatten auf den Lidern, die leuchtend rot geschminkten Lippen – lebt man so da draußen an der Trasse? Hier sieht die Welt anders aus, mein Täubchen. Nur einen Blick hast du darauf geworfen, und schon ist dir speiübel! Kotz dich aus, na, ziere dich nicht – Abukow wird dir das Köpfchen halten und die Brüstchen massieren. Ist ein bemerkenswerter Mann, nicht wahr? Abukow blickte Larissa betroffen an. »Was sollen diese Reden?« fragte er. »Sie bricht mir zusammen!«
    »Dann halte sie gut fest. Der Herr liebt die Gefallenen …«
    »Larissa!«
    »Hier ist ein Straflager, aber kein Puff!«
    »Die Genossin Tichonowa ist die Sekretärin des Chefingenieurs Morosow.«
    »Wie aufschlußreich!« Larissa Dawidownas Stimme war voller Spott. »Braucht man in den Verwaltungen jetzt Modepüppchen für die Schreibmaschinen?«
    Aus Eifersucht war Larissa ungerecht. Natürlich lebte Novella draußen an der Pipeline ganz anders. Wenn sie mit Morosow und den anderen Ingenieuren in den hochrädrigen Geländewagen die riesigen Baustellen abfuhr, trug sie genauso wie alle ausgebeulte, schmutzige Hosen, deren weite Beine sie in klobige Gummistiefel

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