Ein Kreuz in Sibirien
jetzt aus dem Zimmer treten. Wer hätte das gedacht: Rassim kann sich beherrschen! »Sagen wir es so: Ich werde in meinen Bericht eintragen: zwei Tage kein Einsatz der Lagerbrigaden wegen Reihenuntersuchungen im Hospital. Verdacht auf Typhusinfektion. – Das wäre glaubhaft in diesem Sumpfgebiet. Sie müßten sich dann nur mit Ihren Ärzten abstimmen, daß die Typhusuntersuchungen auch in deren Büchern stehen.« Morosow stieß sich von der Wand ab. Rassim glühte innerlich vor Wut, aber er behielt seine erstaunliche Ruhe. »Das wäre zum Beispiel eine perfekte Zusammenarbeit.«
»Und Sie glauben, ich mache da mit?!«
»Ja! Oder schlagen Sie etwas Besseres vor?«
»Ich will den Mörder haben!« brüllte Rassim auf. »Den verdammten Mörder! Und ich will wissen, wie nicht registrierte Hühner ins Lager der Sträflinge kommen!«
»Es ist bedauerlich, daß wir aneinander vorbeireden«, sagte Morosow und wandte sich zur Tür. »Ich werde jetzt einen Blick ins Lager werfen, um meinen Bericht sachlich vervollständigen zu können.«
»Sie haben morgen Ihre Brigaden an den Röhren!« knirschte Rassim und ballte die Fäuste.
»Übermorgen: Ich kann keine kraftlosen Halbleichen gebrauchen. Ich brauche Hände, die zupacken – nicht Hände, die verdorren. Sie werden Mühe haben, in einem Tag diese Männer wieder zum Kriechen zu bekommen.« Morosow faßte an die Türklinke. »Womit kann ich rechnen, Rassul Sulejmanowitsch?«
»Machen Sie schnell die Tür hinter sich zu, damit Sie nicht noch weiter meine Umgebung verpesten.« Nun war er wieder der altgewohnte Rassim, und es tat ihm unendlich wohl, Morosow seine ganze Verachtung ins Gesicht zu schleudern. »Und noch eins, Morosow: Wir sind unter uns!«
»Ja?«
»Diese Minuten vergesse ich Ihnen nie.«
»Das will ich hoffen!« sagte Morosow hart.
»In mir haben Sie jetzt einen Feind. Ahnen Sie überhaupt, was das bedeutet?«
»Ich überlasse Sie ganz Ihrer Freude, mit Rachegedanken zu jonglieren.«
»Wir Turkmenen haben einen Spruch: Hast du einen Feind, so iß keinen Bissen mehr, bis er begraben ist. – Wie gefällt Ihnen das?«
»Miserabel, Rassim! – Warum wollen Sie elend verhungern? Das gönne ich Ihnen nun doch nicht.«
»Auch Sie sind nicht allmächtig!« sagte Rassim keuchend. »Ein ganz kleiner Floh sind Sie, und es wird den Daumen geben, der Sie zerdrückt! Luft! Ich bekomme keine Luft mehr, wenn ich Sie ansehe. Gehen Sie hinaus!«
Morosow tat Rassim nicht den Gefallen, zu antworten oder sichtbar beleidigt zu sein. Im Gegenteil, er hob nur die Schultern, als bedaure er sein Gegenüber, klinkte die Tür auf und verließ das Kommandantenzimmer. Im Flur stieß er auf Jachjajew, der ihm gerade recht kam.
»Ich muß Sie sprechen, Wladimir Alexejewitsch«, sagte der Politkommissar.
Morosow blieb stehen. »Sie auch?« fragte er mit verhaltenem Ärger.
»Unbedingt!«
»Unter vier Augen?«
»Es kann auch hier sein«, winkte Jachjajew ab. »Ihre Bemerkung vorhin – gefährlich ist so etwas!«
Chefingenieur Morosow entgegnete: »Eine Frage! Was haben Sie als verantwortlicher politischer Kommissar getan, um diesen Skandal da draußen zu verhindern?«
»Kommen Sie mir nicht so, Morosow! So nicht!« schrie Jachjajew aufgebracht.
»Es gäbe da noch mehr Fragen, Jachjajew.« Morosow nickte dem kleinen Dicken ermunternd zu. »Also los: Was wollen Sie mir sagen?«
»Woher nehmen Sie Ihre Frechheit, Morosow?«
»Gegenfrage: Woher nehmen Sie den Schweinebraten und die Pralinen für die Genossin Tichonowa?«
»Das kann ich beweisen!« brüllte Jachjajew und rang nach Atem.
»Sie Glücklicher! Vergessen Sie es nicht, wenn man Sie einmal danach fragen sollte.«
Jachjajew röchelte vor Wut, aber er ließ Morosow passieren, ohne ihn weiter zu belästigen. Warte nur, dachte er voll Ingrimm. Warte nur, mein Freundchen! Auch eine tausendjährige Eiche geht jämmerlich ein, wenn man Salzsäure an ihre Wurzel schüttet. Ich werde dich in Säure baden, du hochnäsiger Stier! Nur keine Eile … Jachjajew spielt mit der Zeit, und er bricht dir das Kreuz, wenn du am wenigsten damit rechnest. Was bist du schon? Ein Chefingenieur! Was ist das? Ein Rädchen im Getriebe, das man auswechseln kann. Nichts ist unersetzbar. Wieso nimmt sich jeder so wichtig und ist doch ein Nichts, ein Staubkorn, das verweht? Ob die Welt einen Morosow hat oder nicht – ändert sie sich deshalb? Dreht sie sich anders um die Sonne? Nur keine Hetze, Wladimir Alexejewitsch … Sibirien wird auch
Weitere Kostenlose Bücher