Ein Kuss und Schluss
angehen.«
»Dann bin ich froh, dass er gestern auf einem Angelausflug war.«
»Nicht nur du.« John machte sich eine Notiz. »Am späteren Abend werde ich in die Colfax Street fahren und ein paar der Clubs aufsuchen, in denen - wie soll ich sagen? Personen nichtspezifischen Geschlechts verkehren.«
»Nichtspezifischen Geschlechts?«
»‘tschuldigung. Bricht wieder mal mein polizeiliches Training zur Vermeidung beleidigender Charakterisierungen durch?«
Renee verdrehte die Augen.
»Ich hoffe nur«, sagte John, »dass jemand in diesem Aufzug herumspaziert ist und es jemanden gibt, der sich daran erinnert.«
Renee runzelte die Stirn. »Ist das nicht ziemlich weit hergeholt? Wenn man einen Supermarkt überfällt, läuft man dann in der Öffentlichkeit mit der gleichen Kleidung herum?«
»Wahrscheinlich nicht. Aber vielleicht ist er einige Zeit vorher in dieser Garderobe unterwegs gewesen. Und vielleicht erinnert sich jemand daran.«
»Und vielleicht sind wir jetzt völlig auf dem Holzweg, und es war doch eine Frau. Was bedeutet, dass wir nur unsere Zeit verschwenden würden.«
»Vielleicht. Aber im Augenblick haben wir keinen anderen Anhaltspunkt, mit dem wir weitermachen könnten.«
Renee starrte auf den Tisch. John strich mit einer Hand über ihren Oberschenkel.
»Mach dir keine Sorgen. Noch haben wir nicht verloren.«
Sie wünschte sich, sie könnte genauso optimistisch sein. Ihr zu sagen, sie sollte sich keine Sorgen machen, kam der Aufforderung gleich, nicht mehr zu atmen.
John ging zum Telefon und rief Dave an. Er hinterließ ihm eine Nachricht, da er nicht anwesend war. Als er auflegte, wollte sie ihn fragen, was geschehen würde, wenn sie nach ein paar Tagen oder einer Woche immer noch keine brauchbaren Beweise gefunden hatten. Aber dann entschied sie, die Frage doch nicht zu stellen, weil sie sich nicht sicher war, ob sie die Antwort wirklich hören wollte.
Sie folgte ihm zur Hintertür. Offenbar stand ihr die Besorgnis ins Gesicht geschrieben, denn er blieb stehen und nahm sie noch einmal in die Arme. »He, habe ich dir nicht gesagt, dass du dir keine Sorgen machen sollst?«
»Ich kann nicht anders, John. Wenn ich ins Gefängnis wandere, verliere ich viel mehr als nur meine Freiheit.« Sie schmiegte sich in seine Arme und lehnte den Kopf an seine Schulter. »Ich würde auch dich verlieren.«
Er hielt sie fest und strich ihr beruhigend über das lange Haar, und sie fragte sich, wie sich innerhalb weniger Tage so vieles hatte verändern können. Der Mann, der sie ans Messer liefern wollte, war zu ihrem Verbündeten geworden. Zu ihrem Freund. Zu ihrem Liebhaber. Sie konnte die Vorstellung, ihm aus den Armen gerissen zu werden, nicht ertragen.
»Du weißt, dass ich mein Bestes tue, um dich da rauszuholen«, sagte er.
»Ich weiß«, flüsterte sie, aber sie fragte sich unwillkürlich, ob sein Bestes gut genug war.
Es waren einige Jahre vergangen, seit die Straßen im Süden der Stadt zu Johns Revier gehört hatten, aber er stellte fest, dass sich kaum etwas verändert hatte. Nur die Fassaden der Läden und die Gehwege wirkten etwas heruntergekommener als damals. Es war kurz nach sieben, als er an der Colfax Street parkte, dem Epizentrum der alternativen Szene von Tolosa. Mindestens drei Clubs in der Nachbarschaft - das Queen‘s Court, das Chameleon und das Aunt Charlie‘s - wurden von Menschen frequentiert, die sich nicht eindeutig auf Geschlechterklischees festlegen wollten.
Er stieg aus dem Wagen und wusste, dass er in diesen Läden so auffällig wie ein Vollmond in einer sternklaren Nacht sein würde, weil er einfach nur normal aussah. Er würde keine Antworten erhalten, wenn er sich auf SmallTalk verlegte, wie er es mit der alten Dame im Supermarkt getan hatte. Viele der Leute, die hier verkehrten, bewegten sich in den Grauzonen der Legalität, und sie witterten einen Bullen zehn Meilen gegen den Wind. Ihm blieb nur die Möglichkeit, seine Marke vorzuzeigen und zu hoffen, dass jemand in Plauderlaune war.
Er betrat das Aunt Charlie‘s und stellte sich an die Bar. Schon im nächsten Moment näherte sich ein großer Mann, der eine lange schwarze Perücke und ein kurzes schwarzes Kleid trug und einen Zigarillo zwischen den manikürten Fingern hielt. Er sah aus wie Cher nach einem Bodybuildingkurs. Ohne den Adamsapfel, die nachgewachsenen dunklen Bartstoppeln, die behaarten Arme, die dicken Knie und die großen Schuhe hätte er tatsächlich als Frau durchgehen können.
»Hallo«, sagte er
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