Ein Kuss und Schluss
auch jetzt will sie mich nicht sehen, weil ich ihr bewusst machen würde, dass Menschen sich ändern können. Und daran will sie nicht glauben, weil sie dann an sich selbst etwas ändern müsste.«
John konnte sich nicht vorstellen, wie es war, in einer so negativen Atmosphäre aufzuwachsen. Renee hatte es jahrelang erdulden müssen, aber es war ihr trotzdem gelungen, darüber hinwegzukommen.
»Vor zwei Jahren brachte ich endlich den Mut auf, sie zu besuchen«, sagte sie. »Ich dachte, es sei an der Zeit, eine Friedensfahne zu hissen. Ich war vernünftig und erwachsen geworden, und ich dachte, das könnte vielleicht auch auf sie zutreffen.«
»Was ist geschehen?«
»An der Tür begrüßte sie mich mit einem Drink in der Hand. Es war neun Uhr morgens. Von da an ging es ganz schnell bergab. Nach fünfzehn Minuten musste ich mir anhören, was für ein scheußliches Kind ich gewesen war und was für eine undankbare Tochter ich jetzt bin.«
»Undankbare Tochter?«
»Ja! Sie sagte, nach allem, was sie für mich getan hätte, wäre es wohl nicht zu viel verlangt, wenn ich ihr ab und zu ein paar Dollar geben könnte, nachdem ich diesen tollen Job in diesem schicken Restaurant hatte. Anscheinend war ihr der Stoff ausgegangen, und das Geld vom Sozialamt war noch nicht eingetroffen.«
John hörte, wie belegt Renees Stimme klang, als stünde sie kurz davor, in Tränen auszubrechen. Er nahm ihre Hand und hielt sie fest.
»Bevor ich ihr Haus verließ«, sagte Renee, »schaute ich noch einmal in mein ehemaliges Zimmer. Es war noch genauso wie beim letzten Mal - das ungemachte Bett, die Konzertplakate, die ich aus einem Plattenladen geklaut hatte, der zerbrochene Spiegel, gegen den ich in einem Wutanfall meinen Wecker geworfen hatte. Ich stand da und starrte auf das, was einmal mein Leben gewesen war, und ich sagte mir, dass es das letzte Mal war, dass ich nie wieder an diesen Ort zurückkehren würde.«
»Gut. Halt dich von deiner Mutter fern. Du bist ihr nichts schuldig.«
»Ich weiß. Ich komme mir nur manchmal so betrogen vor, verstehst du? Andere Leute haben wunderbare Familien, und ich habe nur eine Alkoholikerin als Mutter, der es scheißegal ist, wie es mir geht.« Sie seufzte leise. »Um die Wahrheit zu sagen, wenn ich im Gefängnis lande, wird sie höchstwahrscheinlich jubeln, weil es dann endlich so gekommen ist, wie sie es schon immer prophezeit hat.«
»Was hat sie prophezeit?«
»Dass aus mir nie etwas werden würde.«
Sie sagte es völlig gelassen, aber John wusste, wie viel Schmerz sich hinter diesen Worten verbarg. Wenn er die Macht besessen hätte, diese Erinnerungen aus ihrem Bewusstsein zu löschen, so dass sie nie wieder davon heimgesucht wurde, hätte er es ohne das geringste Zögern getan.
»Ich habe versucht, alles richtig zu machen«, sagte sie. »Warum ist plötzlich alles schief gegangen?«
»Darauf gibt es keine Antwort. Und wenn du verzweifelt danach suchst, wirst du irgendwann verrückt.«
»Ist dir klar, dass du mit Ausnahme von Paula der einzige Mensch bist, dem ich jemals von meiner Vergangenheit erzählt habe? Ich könnte es nicht ertragen, wenn sonst jemand davon wüsste. Ich mache mir ständig Sorgen, was die Leute dann über mich denken würden.«
»Es ist vorbei. Du musst dich nicht mehr dafür schämen.«
»Ich hatte schon fast daran geglaubt. Wirklich. Aber dann ...«
»Auch das wird bald vorbei sein. Dann kannst du auch diese Geschichte zu den Akten legen.«
Schon wieder machte er ihr Versprechungen. Dabei gab es nichts, das er ihr mit gutem Gewissen versprechen konnte. Aber er mochte den Gedanken einfach nicht ertragen, dass sie sich aus eigener Kraft aus dem dunklen Sumpf ihrer Vergangenheit gezogen hatte, um nun wieder hineingestoßen zu werden. Er hätte alles gesagt, nur um ihren traurigen, verletzten Gesichtsausdruck zum Verschwinden zu bringen.
»Läuft im Fernsehen irgendein Film?«, fragte sie. »Ich könnte etwas Ablenkung gebrauchen, bis die Pizza kommt.«
Er griff nach der Fernbedienung, schaltete den Fernseher ein und stellte bald fest, dass ihm die Zerstreuung genauso gut tat wie ihr. Es war angenehm, einmal nicht an ihre Probleme denken zu müssen. Sie sahen sich eine Folge einer uralten Sitcom an, und schließlich waren sie beide so entspannt, dass sie sogar über einige Gags lachen konnten.
Er zog Renee an sich, hielt sie in den Armen und dachte daran, wie tadellos sie zusammenpassten, wie angenehm es war, sie zu spüren, und wie wunderbar ihr Haar
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