Ein Kuss und Schluss
totenstill. John rührte sich nicht. Er starrte nur seinen Bruder an und blieb völlig ruhig, aber sie wusste, dass es ein schwerer Kampf für ihn sein musste. Sie hielt den Atem an und zitterte verängstigt, denn ihr war klar, dass er mit dem Rücken zur Wand stand. Was würde er seinem Bruder verraten? »Ja. Ich weiß, wer sie ist.«
»Nein, das glaube ich nicht«, sagte Alex. »Ihr wird ein bewaffneter Raubüberfall zur Last gelegt. Und vor ein paar Tagen ist sie geflüchtet.«
»Ich sagte, ich weiß, wer sie ist«, erwiderte John schroff.
»Dann sag mir, was hier los ist, verdammt noch mal!«
»Renee«, sagte John, ohne seinen Bruder aus den Augen zu lassen. »Geh ins Schlafzimmer.«
»John ...«
»Ich sagte: Geh. Sofort.« Seine Stimme war tief und hatte einen befehlenden Unterton, dem sie sich nicht zu widersetzen wagte. Sie stellte die Teller auf der Anrichte ab und verließ die Küche. Aber sie ging nicht ins Schlafzimmer, sondern blieb auf halbem Weg im Korridor stehen, wo sie sich gegen die Wand lehnte und alles mithören konnte, was die beiden Männer redeten.
»Lass uns zunächst die Fakten klarstellen«, sagte Alex.
»Du weißt, dass sie einen bewaffneten Raubüberfall begangen hat, und trotzdem ...«
»Sie wird dieser Tat verdächtigt.«
»Komm mir jetzt nicht mit solchen Haarspaltereien, John. Sie ist die Frau, mit der sich unsere Familie am Sonntag zum Essen an einen Tisch gesetzt hat, und du hast die ganze Zeit gewusst, wer sie ist?«
»Ich habe niemanden eingeladen. Es war Sandys Idee.«
»Aber du hattest keine Probleme damit, alle zu belügen, oder?«
»Du kennst nur einen Teil der Geschichte.«
»Ich weiß alles, was ich wissen muss. Ich war an jenem Abend in der Wache, als man sie wegen des Raubüberfalls verhaftet hat.«
Johns Stimme blieb völlig ruhig. »Sie ist unschuldig, Alex.«
»Du glaubst ihr? Einfach so? Nun, vielleicht siehst du die Sache anders, wenn ich dir meinen Teil der Geschichte erzähle. Als ich sie an jenem Abend sah, erinnerte ich mich zufällig an eine jugendliche Delinquentin, die ich vor einigen Jahren wegen öffentlicher Trunkenheit festgenommen hatte. Wie könnte ich das kleine Biest je vergessen? Sie hat mir Bier über die Schuhe gegossen.«
Renee musste sich zusammenreißen, um nicht aufzuschreien. War das möglich? Konnte Johns Bruder der Streifenpolizist gewesen sein, der sie damals geschnappt hatte? Heute war er Detective, aber zu jener Zeit konnte er durchaus im Streifendienst gewesen sein. Und er schien sich noch gut an den Vorfall erinnern zu können ... O Gott!
Er war es. Und er war Johns Bruder. Sie wusste nicht mehr, ob sie in der Nacht des Überfalls sein Gesicht gesehen hatte, aber sie war so von der Rolle gewesen, dass sie sich an kaum etwas erinnerte.
»Ihr Vorstrafenregister ist so lang wie dein Arm«, fuhr Alex fort. »Trunkenheit in der Öffentlichkeit war noch ihr harmlosestes Vergehen. Dann habe ich in den Akten nachgesehen, und da war sie wieder. Die kleine Miss Leck-mich-am-Arsch, und plötzlich war sie erwachsen geworden.«
»Auch das ist mir bekannt«, erwiderte John. »Aber es interessiert mich nicht, was sie in der Vergangenheit angestellt hat. Sie hat den Raubüberfall nicht begangen.«
»Verstehst du es immer noch nicht? Es spielt überhaupt keine Rolle, ob sie schuldig ist oder nicht. Sie ist eine flüchtige Tatverdächtige, du bist ein Polizist, und sie hält sich in deinem Haus auf! Das ist das Problem!«
Mehrere Sekunden vergingen, bevor Alex weitersprach in einem sachlichen Tonfall, der Renee erschaudern ließ.
»Ich will dir etwas mehr über sie erzählen, John. Sie war damals nicht nur ein aufsässiger Teenager. Sie gehörte zu den wirklich extremen Fällen. Es war ihr scheißegal, ob sie im Gefängnis landete oder nicht. Solche Menschen ändern sich nie. Sie können sich vielleicht eine Zeit lang verstellen, aber es ist ständig da und wartet nur darauf, wieder an die Oberfläche zu dringen. Ich weiß nicht, ob es genetisch ist oder ob es ihnen in frühester Kindheit eingeprügelt wurde, aber sie werden diese Einstellung nie mehr los.«
Alex‘ Beschreibung, wie Renee früher gewesen war, war so treffend, dass sie bei jedem Wort zusammenzuckte. Aber dieses dumme Mädchen existierte nicht mehr. Wie wollte John ihn davon überzeugen, dass diese Person tot und begraben war und dass die Frau, die jetzt ihren Namen trug, nicht mehr im Traum daran denken würde, sich widerrechtlich zu verhalten?
»Das ist kein
Weitere Kostenlose Bücher