Ein Kuss und Schluss
erst recht nicht. Er hatte immer wieder Fragen gestellt, obwohl das Wort ihres Vaters eigentlich Gesetz war. Er hatte ständig seine Autorität angefochten und dafür viele Prügel einstecken müssen. Er hatte das unheimliche Gefühl, dass sein Vater in diesem Moment vom Himmel herabschaute und nicht für gut befand, was er sah. Die bloße Vorstellung ließ John einen kalten Schauder über den Rücken laufen.
Dabei gab er sich keinen Illusionen hin, was seinen Vater betraf. Joseph DeMarco war streng, rücksichtslos und fordernd gewesen. Er hatte darauf bestanden, dass seine Söhne sich an seine unvernünftigen Maßstäbe hielten. Warum zog John immer noch furchtsam den Kopf ein, wenn er den Erwartungen seines Vaters nicht gerecht wurde?
Ganz tief in seinem Herzen wusste er die Antwort. Weil sein Vater gestorben war, bevor John etwas leisten konnte, was den alten Mann stolz gemacht hätte.
Er bog auf den Parkplatz vor der knallbunt beleuchteten Lobby des Motels und hielt an. Er hätte Renee nicht heute Abend hierher bringen sollen. Er hätte bis zum Tagesanbruch warten sollen, wenn die Welt für sie nicht mehr ganz so trostlos aussah. Aber er hatte befürchtet, dass sie wieder in seinen Armen landete, wenn sie noch eine Nacht länger blieb. Dann hätte er es vielleicht nicht mehr geschafft, sie aus dem Haus zu bringen.
Alex würde ihm morgen Abend die Hölle heiß machen, wenn er zurückkam und feststellte, dass Renee verschwunden war. Auch wenn sein Bruder ihm ins Gewissen geredet hatte, wäre er selbst nie in der Lage, sie auszuliefern. Obwohl er seine Fehler wieder gutmachen wollte, könnte er es sich nie verzeihen, wenn er sie ins Gefängnis brachte, obwohl er wusste, dass sie unschuldig war. Nun konnte er sich wenigstens an die Hoffnung klammern, dass ihr irgendwie die Flucht geglückt war und sie ein halbwegs normales Leben führen würde.
Sie wollte die Tür öffnen.
»Warte, Renee!« Er zückte seine Brieftasche.
»Ich habe genug Geld«, sagte sie leise. »Paula hat mir fünfhundert Dollar geborgt.«
Er reichte ihr ein paar Scheine. »Nimm es trotzdem.«
»Ich will nichts mehr von dir.«
Er hielt das Geld noch eine Weile in der Hand, aber als klar war, dass sie es nicht annehmen würde, steckte er es in die Brieftasche zurück, die er aufs Armaturenbrett warf. Er hätte gerne noch etwas für sie getan, während er wusste, dass er ihr das, was sie wirklich von ihm brauchte, nicht geben konnte.
»Was geschieht, wenn Alex morgen vorbeikommt und sieht, dass ich nicht mehr da bin? Was wird er mit dir anstellen?«
»Mit mir wird er gar nichts anstellen. Es wird ihm nicht gefallen, aber wenn du weg bist, ist die Sache gegessen.«
»Für dich vielleicht. Aber nicht für mich.«
Wieder legte sie die Hand an den Türgriff und hielt erneut inne. Mehrere Sekunden lang rührte sie sich nicht. Dann drehte sie sich langsam wieder um. In ihren Augen standen Tränen, die im schwachen Licht schimmerten.
»Ich habe solche Angst.«
Als er ihre leise geflüsterten Worte hörte, musste John den Drang unterdrücken, sie wieder in die Arme zu schließen, ihr weitere Versprechungen zu machen, die er nicht halten konnte, ihr zu sagen, dass alles gut werden würde, obwohl er wusste, dass sie keine Hoffnung mehr hatte.
»Was soll ich tun?«, fragte sie.
»Fliehen.«
Sie schluckte. »Ich weiß nicht, wohin ich fliehen könnte. Ich habe kein Auto, kein ...«
»Ruf Paula an. Sie wird dir helfen.«
»Und wenn ich mich stelle?«
»Vergiss es. Im Augenblick sprechen alle Beweise gegen dich, und wenn du verhaftet wirst, landest du auf jeden Fall im Gefängnis. Wenn du in der Stadt bleibst und Leandro dich erwischt, könnte er auf die Idee kommen, sich für das zu rächen, was du ihm angetan hast.« Er verstummte, als er das überwältigende Bedürfnis verspürte, ihre Tränen fortzuküssen, statt zu bewirken, dass sie noch mehr weinte. »Flieh, so schnell du kannst und so weit du kannst.«
»Vielleicht rufe ich dich an. Wenn ich irgendwo angekommen bin. Vielleicht...«
»Nein. Ruf nicht an. Schreib nicht. Ich will nicht wissen, wo du bist. Es ist...« Er hielt inne, dann atmete er seufzend aus. »So ist es besser für uns beide.«
Sie nickte langsam. »Willst du etwas Verrücktes hören?«, fragte sie mit einem leisen, humorlosen Lachen.
»Was?«
»Ich glaube, ich war gerade dabei, mich in dich zu verlieben.«
John schloss die Augen und wünschte sich inständig, sie hätte es nicht gesagt. Wie sollte er sein
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