Ein Kuss und Schluss
vier Tabletten auf die Hand und schluckte sie mit einem Glas Wasser hinunter. Er wollte endlich die Kopfschmerzen loswerden, die in seinem Schädel hämmerten, seit sie Winslow hinter sich gelassen hatten.
Dann ließ er sich auf das Sofa im Wohnzimmer fallen und versuchte sich zu erinnern, welche Strafe für Leute vorgesehen war, die flüchtigen Verbrechern Unterschlupf gewährten. Zweifellos fiel sie um etliches höher aus, wenn die betreffende Person Polizist war. Während er dasaß, gab er sich alle Mühe, sich selbst zu überzeugen, dass es keine Riesendummheit war, die er soeben begangen hatte, aber das erwies sich als verdammt schwierig.
Sein Abstieg in die Regionen der Unvernunft hatte begonnen, als er Renee nicht dingfest gemacht hatte, nachdem sie Harleys Laden betreten hatten. Noch tiefer war er gesunken, als er sie mit falschem Namen angesprochen hatte. Und den absoluten Tiefpunkt hatte er erreicht, als er rechts abgebogen und nicht zur Polizeiwache gefahren war.
Er hatte keine Ahnung, was er jetzt machen sollte. Wenn irgendjemand, ganz gleich wer, herausfand, dass er sie hier festhielt, statt sie abzuliefern, konnte er seine Karriere in der Pfeife rauchen. Eigentlich sollte er nur daran denken, dass er sie ins Gefängnis bringen musste, aber im Augenblick ging ihm nur das durch den Kopf, was vor wenigen Stunden im Wald zwischen ihnen geschehen war. Dieses Erlebnis war so heiß, so intensiv, so unvergesslich gewesen, dass seine Erinnerung daran frühestens mit dem Einsetzen der Altersdemenz verblassen würde.
Und dann musste er an seinen Vater denken.
Ohne Zweifel beobachtete Joseph DeMarco ihn aus dem Jenseits und bedauerte es, die Schwelle zwischen Leben und Tod nicht überschreiten zu können, weil er seinen ungeratenen Sohn am liebsten in die Mangel genommen und eine gehörige Portion gesunden Menschenverstands eingebläut hätte. Zuerst war John ausgerastet, weil man den kleinen Mistkerl freigesprochen hatte, und nun hatte er eine Frau, die des bewaffneten Raubüberfalls angeklagt war, an sein Bett gefesselt. John wusste genau, dass sich sein Vater auch nicht durch die mildernden Umstände von seiner Meinung hätte abbringen lassen.
Ich will deine Rechtfertigung gar nicht hören , hatte er die Worte seines Vaters im Ohr, die er sich während seiner Kindheit und Jugend immer wieder hatte anhören müssen. Es gibt keine Rechtfertigung. Es gibt nur Richtig und Falsch.
Er hatte nie übermäßig viele Worte gemacht - er kam sofort auf den Punkt, und dann kamen die Prügel. John erinnerte sich noch gut an den Abend, als er mit sechzehn Jahren zu spät nach Hause gekommen war, weil er einem Freund geholfen hatte, dessen Autobatterie leer gewesen war. Zu spät war zu spät, hatte sein Vater gesagt, und seinem Sohn die Hölle heiß gemacht.
Seine Brüder Alex und Dave hatten Mittel und Wege gefunden, mit der schmalen Abgrenzung zwischen Richtig und Falsch zurechtzukommen - Dave, indem er passiven Widerstand leistete und jede Bestrafung mit stoischem Gleichmut über sich ergehen ließ, und Alex, indem er genauso wie ihr Vater wurde, so dass er nur noch selten mit einer Bestrafung rechnen musste. John hatte keine erfolgreiche Strategie gehabt und seine Jugend damit verbracht, seinen Vater gleichzeitig zu lieben und zu hassen - und sich zu fragen, ob irgendwann der Tag kommen würde, an dem er seinen Ansprüchen gerecht wurde.
Bisher hatte er diese Frage immer nur verneinen müssen.
Mehrere Male hätte sich John beinahe dazu durchgerungen, in sein Schlafzimmer zurückzumarschieren, Renee zu schnappen und sie zur Wache zu bringen. Dann dachte er: Und was ist, wenn sie unschuldig ist ? Um sich selbst gleich darauf zu erwidern: Das zu entscheiden ist nicht deine Aufgabe.
Es spielte keine Rolle, wie oft er sich sagte, dass er seine Arbeit erledigen und die Sache zu Ende bringen sollte; er gelangte immer wieder zur Schlussfolgerung, dass es nur eine Möglichkeit gab, wie er sie mit reinem Gewissen ins Gefängnis bringen konnte. Nämlich wenn für ihn kein Zweifel mehr bestand, dass sie schuldig war.
Im Wald hatte sie mit ihm reden und ihre Geschichte erzählen wollen. Sie hatte auf ihrem Recht bestanden, sich zu verteidigen.
Vielleicht wurde es Zeit, dass er ihr jetzt die Gelegenheit dazu gab.
Renee versuchte, eine Bilanz ihrer derzeitigen Situation zu ziehen. Sie wollte verstehen, was eigentlich los war, aber schließlich gab sie auf. Sie hatte keine Ahnung, was John vorhatte, aber sie verspürte einen
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