Ein Kuss und Schluss
winzigen Funken Hoffnung, dass er ihr vielleicht doch glaubte, zumindest ein klein wenig. Andernfalls würde sie jetzt im städtischen Gefängnis sitzen.
Sie schaute sich um. Es war das typische Schlafzimmer eines Junggesellen. Überall lag Kleidung herum, das Bett war nicht gemacht, und die Möbel sahen nach Flohmarkt aus. Die Staubschicht auf der Kommode verriet ihr, dass Putzen ziemlich weit unten auf seiner Dringlichkeitsliste stand.
Auf der Kommode waren mehrere gerahmte Fotos angeordnet. Drei davon waren Atelieraufnahmen, eins zeigte ein älteres Paar, ein anderes eine attraktive, dunkelhaarige Frau etwa Anfang dreißig, und ein weiteres war ein Gruppenbild, das vor einiger Zeit entstanden sein musste. Darauf war John zu erkennen, aber er sah mindestens zehn Jahre jünger aus. Er war von lächelnden Menschen umgeben.
Familienfotos.
Renee hatte ein sehr seltsames Gefühl, als sie die Bilder betrachtete, denn ihr wurde plötzlich bewusst, dass der Mann, gegen den sie in den vergangenen vierundzwanzig Stunden Krieg geführt hatte, ein Leben hatte. Eine Familie. Eine Vergangenheit. Sie hatte bereits geglaubt, dass er eines Tages als erwachsener, fertig ausgebildeter Polizist auf die Welt gekommen war, um Tolosa vor bösen Menschen zu retten. Aber hier war der Beweis, dass er tatsächlich ein menschliches Wesen war.
Sie sah sich die Fotos genauer an, und schließlich fragte sie sich, ob er auch welche in der Brieftasche dabei hatte. Dann dachte sie daran, was sich in ihrer eigenen Brieftasche befand, die zweifellos vom Geschäftsführer der Flamingo Motor Lodge beschlagnahmt worden war. Darin steckten achthundertfünfzig Dollar, aber nach Fotos hätte er vergeblich gesucht. Okay, sie hatte immer noch den blöden Schnappschuss dabei, den sie mit Paula vor ein paar Jahren in einem Fotoautomaten aufgenommen hatte. Aber das war auch schon alles. Man hatte Fotos in der Brieftasche, um sich an die Familie zu erinnern, wenn man nicht bei ihr sein konnte. Wollte Renee an ihre Familie erinnert werden, die lediglich aus einer alkoholabhängigen Mutter bestanden hatte? Eher nicht.
Sie lehnte sich gegen einen Bettpfosten, was nur ging, wenn sie sich den Arm verrenkte, und seufzte erschöpft. Der lange Fußmarsch hatte sie ganz schön geschafft. Gedanken an Flucht sickerten durch ihren Kopf, aber die Müdigkeit hinderte sie daran, sie zu einem realistischen Plan weiterzuentwickeln. Letzte Nacht hatte sie John überrumpelt. Eine solche Gelegenheit würde sie kein zweites Mal erhalten.
Schlaf. Das war das Einzige, was sie jetzt brauchte.
Sie war bereits am Einnicken, als sich die Schlafzimmertür knarrend öffnete. Renee fuhr erschrocken hoch und sah, wie Johns breitschultrige Gestalt im Türrahmen stand.
»Hast du Hunger?«, fragte er.
»Ja. Ein wenig.«
Er schloss die Handschellen auf. »Ich habe etwas Suppe warm gemacht. Komm essen.«
Ja. Essen wäre jetzt wirklich gut! Allerdings bereitete es ihr einige Mühe aufzustehen. All ihre Muskeln schmerzten, und sie schaffte es nur gerade so, sich aufrecht zu halten.
»Aber zuerst«, sagte John, »will ich die Regeln klarstellen. Wenn du nicht gefesselt bist, verlässt du nicht mein Sichtfeld. Wenn du es doch tust, liefere ich dich ab. Wenn jemand an die Tür kommt, schließe ich dich im Schlafzimmer ein. Wenn du auch nur den leisesten Mucks von dir gibst, liefere ich dich ab. Wenn du auf irgendwelche seltsamen Ideen kommst, wie du es zum Beispiel beim Marsch durch den Wald probiert hast, liefere ich dich ab. Einfach gesagt: Sollte irgendwer herausfinden, dass ich dich hierher gebracht habe, könnte ich meinen Job verlieren, ganz zu schweigen von den Strafen, die mich erwarten, weil ich einer flüchtigen Verbrecherin Unterschlupf gewähre. Ich werde alles tun, um zu vermeiden, dass es so weit kommt. Alles. Hast du mich verstanden?«
Renee schluckte und nickte.
»Und falls ich dich wirklich abliefere und du irgend wem von dieser Sache erzählen willst, werde ich alles abstreiten und dann alles Menschenmögliche unternehmen, um sicherzustellen, dass du wegen bewaffneten Raubüberfalls verurteilt wirst. Hast du auch das verstanden?«
Inzwischen war Renee so sehr durch seine nüchterne, knallharte Art eingeschüchtert, dass ihr Herz wie eine Basstrommel pochte. Aber das ging in Ordnung. Mit Regeln konnte sie leben. Sie konnte mit Einschränkungen ihrer Bewegungsfreiheit leben. Sie würde sogar Würmer essen und in einer Ecke Kopf stehen, wenn ihr dadurch das Gefängnis
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