Ein Kuss vor Mitternacht
Haughston sich voller Eifer mit Constances abgetragenen Kleidern beschäftigte.
Nachdem Francesca sich schließlich verabschiedet hatte, nicht ohne Constance noch einmal aufzufordern, sie morgen vor dem Ball unbedingt zu besuchen, wandten die Mädchen sich mit vor Empörung kreischenden Stimmen an ihre Mutter.
„Wieso darf sie Lady Haughston besuchen?“ Georgi ana strafte Constance mit einem giftigen Blick. „Und wir nicht?“
„Lady Haughston hat mich um diesen Besuch gebeten“, erklärte Constance ruhig und verzichtete auf den Hinweis, dass Georgiana und Margaret nicht von Lady Haughston eingeladen worden waren.
„Das weiß ich selbst“, entgegnete Georgiana bissig. „Aber wieso? Was will sie von dir? Wieso hat sie dich heute abgeholt?“
Constance antwortete nicht. Sie hatte nicht die Absicht, ihren Verwandten etwas von Francescas Plänen zu erzählen.
„Und womit hast du all diese Sachen bezahlt?“, fragte Margaret entrüstet und beäugte neidisch die neuen Kleider und das modische Beiwerk auf dem Bett.
„Ich habe etwas von meinen Ersparnissen abgezwackt.“
„Interessant. Wenn du so viel Geld hast, könntest du auch daran denken, uns ein wenig auszuhelfen“, sagte Tante Blanche und schürzte beleidigt die Lippen. „Seit sechs Jahren versorgen wir dich und schenken dir ein Dach über dem Kopf.“
„Tante Blanche! Du weißt genau, dass ich euch jeden Monat Geld für meinen Unterhalt gebe!“, verteidigte Constance sich aufrichtig empört. „Und für meine persönlichen Anschaffungen habe ich stets selbst bezahlt.“
Ihre Tante zuckte die Achseln, als habe Constances Einwand nichts mit dem zu tun, was sie gesagt hatte. „Ich begreife nicht, wieso Lady Haughston ausgerechnet dich bevorzugt. Das ist mir völlig unerklärlich. Wieso lädt sie Georgiana nicht zu einem Ausflug ein?“
„Und was ist mit mir?“, fragte Margaret gekränkt.
„Ich bin die Älteste“, stellte Georgiana hochnäsig fest.
Im Nu hatte sich ein Streit zwischen den Mädchen entwickelt, während Constance begann, ihre Einkäufe zu ordnen und im Schrank zu verstauen. Endlich verschwanden die streitlustigen Hühner, um das Gezänk unten im Wohnzimmer fortzusetzen.
Damit war das Thema allerdings noch nicht vom Tisch. Georgiana und Margaret fingen beim Abendessen wieder davon an, bis ihr sonst durch nichts zu erschütternder Vater sie barsch anfuhr, endlich den Mund zu halten, worauf sie in schmollendes Schweigen verfielen. Sobald der Herr Papa sich allerdings zu seinem Glas Port in die Bibliothek zurückgezogen hatte, begann das Lamento von vorne. Tante Blanche stimmte den Mädchen selbstverständlich zu und klagte, es sei völlig unverständlich und ungerecht, dass Constance in den Genuss von Lady Haughstons Gunst kommen sollte statt ihrer wohlgeratenen Töchter. Nachdem Constance sich das neiderfüllte Palaver zur Genüge angehört hatte, verabschiedete sie sich frühzeitig, indem sie Kopfschmerzen vorschützte, und ging auf ihr Zimmer. Auch am nächsten Tag hielt sie sich, soweit es ihr möglich war, von der Verwandtschaft fern und beschäftigte sich damit, in ihrer Kammer kleinere Veränderungen, die Francesca vorgeschlagen hatte, an ihren Kleidern anzubringen. Die großen Näharbeiten wollte sie den geübten Händen der Zofe von Lady Haughston überlassen.
Sie dachte sogar darüber nach, dem Mittagessen fernzubleiben. Da Sir Roger sich tagsüber für gewöhnlich in seinem Klub befand, würde niemand dem zu erwartenden Jammern der Mädchen Einhalt gebieten, in das Tante Blanche wieder einstimmen würde. Constances größte Sorge bestand allerdings darin, dass Tante Blanche ihr verbieten könnte, Francescas Einladung wahrzunehmen, auch wenn sie sich dadurch selbst schaden würde.
Wenn sie nämlich nicht zum Mittagessen erschiene, überlegte Constance, könnte ihre Tante sich dies zunutze machen und behaupten, sie, Constance, sei krank und müsse deshalb den Besuch bei Lady Haughston und den Ball am Abend absagen. Widerstrebend begab sie sich also nach unten mit dem festen Vorsatz, ihr Temperament und ihre Zunge im Zaum zu halten; schließlich hatte sie in dieser Tugend ja reichlich Übung.
Wie befürchtet, fingen Georgiana und Margaret erneut an, sich über die ungerechte Behandlung zu beklagen, noch ehe die Suppe aufgetragen wurde. Constance bemühte sich redlich, sich nicht provozieren zu lassen, doch schließlich richtete Tante Blanche das Wort an sie. „Constance“, begann sie, ohne von ihrem Teller
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